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Die Tragödie des Leonard Bernstein

Wie ein vermeintlich kultivierter Mensch sich an einem großen Humanisten verging - und in welcher Tradition er damit stand. Über die Tragödie als wichtiges Mittel einer zivilisatorischen Entwicklung

Was bringt Menschen mit großer künstlerischer Begabung dazu, sich dem Wahren und Guten zu verschließen? Letztendlich ist es ein Mangel an Bildung. Bildung, die sokratisch strukturiert ist und die die Frage nach dem Welt- und Menschenbild ins Zentrum jener Überlegungen rückt, welche am Ausgangspunkt der Bemühungen stehen, anderen Menschen die Freude am Nachdenken über ihre Rolle in der Welt zu vermitteln.

Sokrates war der Lehrer des Platon. Er wirkte im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, und wurde im Jahr 399 v. Chr. zum Tode verurteilt, weil er die Jugend durch Bildung zu eigenständigem Denken ermunterte und damit befähigte, die Dürftigkeit politischer Entscheidungen der Zeit sowie Sinn und Unsinn wirtschaftlicher Strategien selbst zu erkennen.

Schriftliche Zeugnisse von Sokrates selbst sind nicht überliefert. Alles, was wir heute wissen, wurde von seinem Schüler Platon übermittelt. Allerdings wurden sowohl Sokrates als auch Platon in Athen auf der Basis des weisen Solon erzogen, der die Idee der Attischen Republik durch die von ihm eingeführten Gesetze und Gerichte gefestigt hatte. Ihren Ursprung hatte diese Idee in der griechischen Tragödie, einer kulturellen Entwicklung, die sich von Homer über Aischylos bis zu Sophokles spannte und den zivilisatorischen Übergang von einer archaischen Klans- und Blutherrschaft zu einem auf moralische Prinzipien und Grundsätze gegründeten gesellschaftlichen Selbstverständnis darstellte.

Wiewohl Athen als Ort schon früher existierte, ist “das Athen der Griechischen Klassik” erst mithilfe der Dichtung als kulturelle Idee vor allem durch die Tragödien entwickelt und geschaffen worden. Um dies zu erkennen, ist es notwendig, die Kernaspekte in der Dichtung Homers, Aischylos’ und Sophokles zu betrachten: In der epischen Dichtung1 Illias wird das Unglück beschrieben, welches über Griechenland kam, nachdem es den Sieg im Trojanischen Krieg errungen hatte. Hierfür waren Agamemnon, Menelaos und Achilleus verantwortlich. Der Trojanische Krieg, entstanden durch den Raub der Helena, Frau des Menelaus, durch Paris, hatte nur Verlierer, denn nahezu alle Beteiligten kamen im Zusammenhang mit diesem Krieg ums Leben. Selbst der scheinbar unverwundbare Achilleus wird schließlich vom oligarchischen Gott Apollon am skäischen Tor getötet (womit er auch in Friedrich Schillers klassischem Gedich “Nänie” eine Rolle spielt, welches von Johannes Brahms meisterhaft vertont wurde).

Aischylos bringt dann in seiner Trilogie der Orestie die trojanische Tragödie in klassischer Dichtung auf die Bühne. Im ersten Stück wird Agamemnon von seiner Frau Klytaimnestra nach seiner Rückkehr aus Troja ermordet — weil er, um in den Krieg gegen Troja ziehen zu können, die gemeinsame Tochter Iphygenie geopfert hatte. Im zweiten Stück rächt Agamemnons Sohn Orestes den Tod des Vaters, weil ihn der oligarchische Gott Apollon an die Pflicht der Hellenen zur Sühne des Vatermords erinnerte. Orestes erschlägt seine Mutter. Im dritten Stück schließlich wird Orestes dafür von den Rachegöttinnen (Erinnyen) verfolgt. In Athen muss schließlich ein Gericht über den Fall von Rache und Gegenrache entscheiden. Die Stadt wird selbst Teil des Streits, weil ihr die Furien Vergeltung androhen, falls Orestes nicht ausgeliefert werde. Das Gericht ist unentschieden, und anstatt des feigen Apollon, der ebenfalls die Rachegöttinnen fürchtet, gibt Pallas Athene, Göttin der Weisheit, die entscheidende Stimme ab: Orestes darf leben, wenn die Athener den Erinnyen eine Säule errichten, die sie täglich daran erinnert, wie schrecklich die Rache der Erinnyen wäre, wenn jemals erneut auf der Basis archaischer, unvernünftiger Traditionen oder Riten gehandelt wird und die Weisheit außen vor bleibt.

Schließlich folgt Sophokles mit der Ödipus-Trilogie in den Stücken König Ödipus, Ödipus auf Kolonos und Antigone, um die zivilisatorische Idee der Nation Athen zu komplettieren. Erneut wird das sinnlose Sterben thematisiert, hier am Beispiel der Stadt Theben. Während sich die Hauptpersonen Ödipus, seine Eltern Laios und Iokaste, deren Bruder Kreon sowie die Kinder des Ödipus im scheinbaren Einklang mit archaischen Sitten und Orakelsprüchen selbst, bzw. gegenseitig umbringen, ist es der König Theseus von Athen, der dem nach begangenem Vatermord und Blutschande wahnsinnig und erblindet umherirrenden Ödipus vor der Verfolgung durch seinen Schwager Kreon Zuflucht und Schutz bietet. Ausgerechnet im Hain der Eumeniden, also der nach dem weisen Ratschlag der Pallas Athene zu ‘Wohlmeinenden’ verwandelten ehemaligen Rachegöttinnen, wird Ödipus in Athen seinen Frieden finden, obwohl Kreon ihn zum Sterben nach Theben zurückführen will, ohne ihn jedoch dort in Ehren bestatten zu wollen.

Homer, Aischylos und Sophokles haben somit durch ihre Tragödien jeweils den “springenden Punkt” für die künstlerische Veredelung der Idee gefunden: nicht die beschriebenen kulturell-rituellen Praktiken sind das Wesentliche (auch nicht die para-psychologiche Umdeutung in vermeintliche erotische Gelüste, wie Freud sie bei Ödipus diagnostiziert haben will), sondern die (durch die wiederkehrende Behandlung über die Zeiten hinweg somit sehr klar herausgestellte) moralisch-zivilisatorische Dimension der Befreiung einer Gesellschaft von irrationalen und unvernünftigen Fixierungen auf emotionalen Impulsen oder Konventionen wie Rache und Orakeln. Athen, und damit das sokratisch-platonisch klassische Griechenland, war durch seine Dichtung zur Wiege der Zivilisation geworden. Das kreative Denken der Poeten (ποίησις, poiesis bedeutet etwas Neues schaffen, Fortschritt erzielen) hat aus niedrigen Stufen einer Zivilisation eine höhere Qualität derselben entwickelt, und zwar durch die Kunst. In eben diesem Sinne spricht Percy Bysshe Shelley von den Poeten als den “nicht anerkannten [verkannten] Gesetzgebern der Welt.”2 Sie formen die Zivilisation.

Leibniz

Gottfried Wilhelm Leibniz war ein Universalgelehrter der Zeit nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg. Das heisst, er verfügte über eine außerordentlich breite und ebenso fundierte Bildung. Mehr noch: Leibniz war ein Befürworter der sokratischen Methode Platons, um mittels Bildung den Wiederaufbau durch technischen Fortschritt zum Wohle aller und zum Ruhme Gottes zu verwirklichen. In seinen ‘Metaphysischen Abhandlungen’ zitiert Leibniz Platon sogar ausführlich hinsichtlich der Notwendigkeit, die Gesetze des Kosmos zu erforschen. Leibniz ist sich mit Platon in der Ablehnung einer materialistischen Philosophie einig:

Leonard Bernstein und seine Attacke auf Leibniz

Leonard Bernstein gilt als gebildeter und feingeistiger Mensch. Der 1990 verstorbene Komponist und Dirigent hat allerdings nicht davor zurückgeschreckt, Gottfried Wilhelm Leibniz (und mit ihm die sokratische Methode der Wahrheitsfindung jenseits des Materiellen) in unflätigster Weise zu diskreditieren.

Anlässlich einer Aufführung des von ihm komponierten Musicals “Candide” 1989 im Londoner Barbican drehte sich Bernstein, der bereits zum Dirigat der Ouvertüre angesetzt hatte, scheinbar unvermittelt nochmals um und hielt die im obigen Videoclip im Original zu hörende sowie hier in Übersetzung eingefügte “spontane” Rede:

Überraschung. Meine lieben Freunde,

Ich höre euch denken: “Da kommt wieder der alte Professor, um uns eine Vorlesung zu halten.” Aber ich verspreche, mich kurz zu fassen und nur eine Einführung zu geben. Der Grund, warum ich ein paar Worte sagen möchte – bitte entschuldigen Sie meine heisere Stimme, auch ich habe mich, wie so viele von Ihnen, mit der englischen Grippe, der königlichen, angesteckt –

Der Grund, warum ich etwas sagen möchte, ist, dass ich seit mehr als 30 Jahren, genauer gesagt seit 35 Jahren, immer wieder gefragt werde: “Warum ‘Candide’? Woher kommt diese Idee mit ‘Candide’, und wohin soll sie führen?” Ich dachte, ich könnte etwas klarer antworten, wenn ich nicht nur als Komponist dieses Werks spreche, sondern als alltäglicher Beobachter der Geschichte, wie Sie es auch sind, aber ich beobachte insbesondere jene Epoche, die als Zeitalter der Aufklärung bekannt ist. Sie umfasst, grob, das 18. Jahrhundert. Es war das Jahrhundert, in dem Voltaire lebte, schrieb und außerordentlichen Einfluss hatte.

Sein Meisterwerk war eine derbe, schmale, kleine Novelle namens “Candide”, die die Dramatikerin Lillian Hellman und mich dazu inspirierte, uns musikalisch daran zu versuchen.

Voltaires Buch trug eigentlich den Titel „Candide oder der Optimismus“ und war eine bösartige satirische Attacke auf ein vorherrschendes philosophisches System namens Optimismus, das auf den eher schwer verdaulichen Schriften eines gewissen Gottfried Wilhelm VON L-E-I-B-N-I-Z [brüllt den Namen wie auf dem Hof einer preußischen Kaserne] basiert und von unserem geliebten Alexander Pope populär gemacht wurde. Ein Beispiel dafür ist dieser großartige Satz aus seinem Essay über den Menschen: „Eine Wahrheit ist klar: Was ist, ist richtig.“

Nun, laut Leibniz, dessen Ideen Pope in seinen Texten lyrisch verarbeitete, muss ein Schöpfer — wenn wir an ihn glauben — ein guter Schöpfer sein. Und der größte aller möglichen Schöpfer, der daher nichts als die beste aller möglichen Welten erschaffen haben kann. Mit anderen Worten: Alles, was ist, ist richtig.

Zugegeben, in dieser Welt werden Unschuldige sinnlos abgeschlachtet, Verbrechen bleiben meist ungestraft, es gibt Krankheit, Tod und Armut. Aber wenn wir nur das Gesamtbild sehen könnten, den göttlichen Weltplan, dann würden wir verstehen, dass alles, was geschieht, zum Besten ist, so sprach Leibniz.

Natürlich fand Voltaire diese Idee jeden Tag seines Lebens absurd, aber besonders an jenem Tag im Jahr 1755, als ganz Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört wurde und unzählige Menschen ertranken, zerquetscht, lebendig begraben oder einfach ausgelöscht wurden.

Wenn Leibniz Recht hätte, sagte Voltaire, dann würde Gott nur spielerisch mit seiner Sprühpistole herumschießen — und eine Million Mücken würden willkürlich und zufällig zu Boden fallen.

Nun, die Katastrophe von Lissabon war für Voltaire der letzte Strohhalm und veranlasste ihn, Candide zu schreiben, in dem er gegen alle etablierten Autoritäten wetterte. Gegen die königliche, die militärische und die merkantile, aber vor allem gegen die Macht der Kirche, die zu dieser Zeit tatsächlich Ketzer verbrannt hatte, um Erdbeben zu verhindern.

Mit anderen Worten, sagt Voltaire, ist sektiererische Religion immer eine Aufforderung zum Konflikt. Und Optimismus als strenger Glaube führt daher zu Selbstzufriedenheit, macht träge, hemmt die menschliche Kraft, sich zu verändern, Fortschritte zu machen, sich gegen Ungerechtigkeit zu erheben oder etwas zu schaffen, das zu einer wirklich besseren Welt beitragen könnte.

Während meiner unglaublich umfangreichen Recherchen für diesen Vortrag, den Sie jetzt erdulden müssen, stieß ich auf die folgende recht prägnante Zusammenfassung des gesamten Voltaire-ismus. Zitat: „Voltaire agierte als Eklektiker, der die Ideen der Stoiker, Epikureer, Skeptiker ... synthetisiert hatte…“ Ach, zum Teufel damit. Spielen wir die Ouvertüre!

Bernstein ist, wie sich im kompletten Video unschwer erkennen lässt, völlig von sich eingenommen und produziert sich, indem er eine eigene Komposition zelebriert (“Überraschung…”). Diese beschäftigt sich mit einem Werk des philosophischen Materialismus — Voltaires Candide. Dabei benutzt Bernstein Voltaire. Es geht eben um Bernstein, nicht um Voltaire, es geht um die Komposition und die Aufführung (“Ach, zum Teufel [mit dem Zitat über Voltaire]. Spielen wir die Ouvertüre!”). Es geht um Bernstein, den — nach eigener Auffassung — genialen Komponisten, der den Sinn des Lebens auf das physische Dasein reduziert (ebenso wie Voltaire), und der dazu einen Universalgelehrten, Wissenschaftler und Philosophen, dem es um die Vervollkommung der Schöpfung in ebenso gleicher Weise geht wie um die Verherrlichung des Schöpfers (anders als Bernstein, der offenkundig nicht an einen Schöpfer glaubt sich und daher in zynischer Weise über Leibniz lustig macht).

Doch vielleicht Bernstein fürchtet Leibniz insgeheim? Vielleicht befürchtet er, Leibniz könnte mit seiner Metaphysisik und Philosophie richtig liegen. Daher muss er die Leibniz’sche Lehre in ihr Gegenteil verkehren und ihn quasi als zynischen Nazi darstellen (Bernstein ist Sohn jüdischer Einwanderer nach Amerika), der Freude am Leid anderer Menschen empfindet (weswegen er den Namen militaristisch-sadistisch herausschreit).

Bernstein behauptet, Leibniz habe ein System des Optimismus geschaffen. Das stimmt nicht, denn der Begriff wurde erst 1737 von einem Gegner, dem Jesuiten Louis Betrand Castel, geprägt. Leibniz hat ihn so nicht verwendet.

Leibniz und die Metaphysik

Statt dessen hat Leibniz 1686 in seinen Metaphysischen Abhandlungen vor allem und wiederholt von der Aufgabe gesprochen, Glückseligkeit (Felicité im französischen Originaltext Discours de Metaphysique von Leibniz) zu erlangen. Gott habe, so Leibniz, die beste aller möglichen Welten geschaffen, um mit einem auf die geistige Verbindung mit Gott ausgerichteten Leben die Glückseligkeit aller Menschen zu ermöglichen (“la félicité de cette cité de Dieu est son principal dessein”). Diese Glückseligkeit setze die Freiheit des Willens voraus, was auch die Möglichkeit für moralisch falsche Entscheidungen der Menschen im Diesseits beinhalte. Alles Handeln jedes Menschen wirke darüber hinaus unmittelbar auf das ganze Universum. Jenseits aller physischen Wirklichkeit existiere eine über die Physik hinausgehende Wirklichkeit (Metaphysik = jenseits der Physik), die geistiger Natur ist und in der die menschlichen Seelen als seiende Geister ewig bestehen. Gott ist nach Leibniz der vollkommenste Geist (le plus accompli de tous les Esprits) und das herausragendste Seiende (le plus grand de tous les estres).

Leibniz, der 1710 noch die Theodizee veröffentlichen wird, die allerdings auf seinen metaphysischen Überzeugungen aufbaut, hat — was Bernstein bewusst verschweigt —vor allem logisch gedacht — und zwar in einem weit über den engen mathematischen Gebrauch des Wortes Logik hinaus. Die Verbindung zwischen Schöpfergott und Schöpfung zu zeigen, lag Leibniz am Herz. Diese Verbindung, die sodann logisch zum Schluss führt, dass Gott die beste aller möglichen Welten schuf, weil sie die physische Realität einer geistigen Schöpfung darstellt, in der es durch den geistig mit Gott verbundenen Menschen (Kern von Leibniz Monadologie ist diese Verbindung der Seelen mit Gott und untereinander) um die zunehmende (also noch nicht absolut erreichte!) Vervollkommung einer materiellen Welt geht. Dazu muss sich der Mensch seiner Verbindung zu Gott bewusst werden — und es ist dieses Bewusstsein, was Bernstein (wie auch vor ihm die Mitglieder der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften mit ihrem ‘Wettbewerb’ über die angebliche Ähnlichkeit der Ansichten des von Bernstein zitierten Dichters Alexander Pope mit der Metaphysik und Philosophie von Leibniz) zu hintertreiben versuchen.

Bernhard Mandeville als Gegenspieler von Leibniz

Leibniz vertrat eine Auffassung, die nicht jedem gefiel. Wer sich als “würdiger als andere” betrachtet, oder zumindest in einer Position der Machtfülle über andere befindet und diese Position erhalten will, dem kann der Gedanke nicht gefallen, dass in jedem Menschen eine kreative Seele wirkt, die in der Lage ist, neue Entdeckungen zu machen, welche die bisherige Situation grundsätzlich auf den Kopf stellen könnten. Da in archaischen und antiken Gesellschaften wenige (griechisch: ὀλίγοι oligoi „wenige“) über viele Menschen herrschten (ἀρχή archē „Herrschaft, Führung“), liegt hier begründet, warum Oligarchen kein Interesse an einer auf der Gottesebenbildlichkeit des Menschen beruhenden Weltanschauung haben. Es zeichnet solche Kreise vor allem aus, dass sie sich bemühen, den Menschen als nur ein anderes Tierwesen zu betrachten, welches prinzipiell wie eine Herde oder ein Bienenvolk geführt und bewirtschaftet werden müssen — von jenen wenigen, die besondere Gaben in ihrem Blut (oder ihren Genen) beanspruchen, welche sie aus der Masse zu quasi-göttlichem Status erheben.

Die griechischen Götter des Olymp waren im wesentlichen Oligarchen, die zwar unter den ‘Normal-Sterblichen’ lebten, aber die auf strikte Trennung bedacht waren. Zeus war in diesem Sinne ein quasi-unsterblicher Ober-Oligarch, der es seinem Mit-Gott Prometheus nie verziehen hat, dass dieser den (sterblichen) Menschen das Feuer (die Lernfähigkeit) und eine Seele gab.

Im oligarchischen England hat sich ab dem 16. Jahrhundert mit Heinrich VIII (der selbst noch von Humanisten wie Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam im Geiste einer zeitgenössischen Frömmigkeit (devotio moderna) erzogen worden war) als Antwort auf die Renaissance ein dezidiert oligarchisch-exklusives Gesellschaftsverständnis durchgesetzt, welches die Masse der Menschen als tierhaft betrachtete, die wie die Welt insgesamt zur Untertänigkeit bestimmt sei und die beherrscht und ausgenutzt werden müsse. Es ist insofern auch kein Zufall, dass die heute herrschende Auffassung der Ökonomie aus dem oligarchischen England stammt und auf Bernhard Mandeville zurückgeht (,auch der philosophische Liberalismus, mit dem Leibniz Zeit seines Lebens zu kämpfen hatte, stammt aus England).

Bernard Mandeville gilt als Begründer der freien Marktwirtschaft und als geistiger Vater von Adam Smith wie auch der späteren „Österreichischen Schule“ der Nationalökonomie von Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises und Milton Friedman. Mandeville war ein Zeitgenosse von Leibniz, der 1670 in Holland geboren wurde und nach seiner Ausbildung in England wirkte. Mandeville trat dezidiert gegen die Lehre der zeitgenössischen Frömmigkeit und der gleichen Würde eines jeden Menschenlebens ein, wie sie von der devotio moderna, aber auch explizit von Gottfried Leibniz oder August Hermann Francke vertreten wurde, und die beispielsweise die Errichtung von Waisenhäusern und die Bildung der breiten Bevölkerung zum Ziel hatte.

Diese Zielstellung, die insbesondere auf wissenschaftlich-technologischen Fortschritt im Interesse des Gemeinwohls setzte, kritisierte Mandeville in seinem Werk „Die Fabel von den Bienen“. Der (oligarchische) Mensch müsse frei sein, „im Kleinen“ seine egoistischen Ziele zu verfolgen, betonte Mandeville, und die Kombination individueller, egoistischer, sogar krimineller Handlungen führe unweigerlich zum größtmöglichen Wohl „im Großen“.

Wie stark Mandeville nachwirkt wird daran deutlich, dass sich noch 1966 der spätere Nobelpreisträger für Wirtschaft, Friedrich von Hayek, auf Mandeville als “Mastermind” berief.

Leonard Bernsteins Attacke auf Leibniz ist im Licht dieser heute vorherrschenden, globalistisch-oligarchischen Weltanschauung des Freihandels zu sehen.

Gottfried Leibniz, der mit einiger Wahrscheinlichkeit Premierminister von England geworden wäre, wenn nicht seine Gönnerin, Kurfürstin Sophie von Hannover, die Enkelin des Königs Jakob I, im Jahr 1714 plötzlich und nur zwei Monate vor der letzten Stuart-Königin, Anne, gestorben wäre, hatte auf der Basis seiner philosophisch-vernünftigen Frömmigkeit (Monadologie) insbesondere eine Verpflichtung erkannt, das Potenzial eines jeden Menschen zu achten und zu fördern.

Diese Förderung sollte für Leibniz quasi selbstverständlich durch eine klassisch-sokratische Bildung erfolgen.

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Mendelssohn und Lessing an der Seite von Leibniz

Lessing hatte beredte Fürsprecher, darunter Gotthold Lessing und Moses Mendelssohn. Beide haben Leibniz nicht mehr persönlich gekannt, doch wurden stark von seiner Gelehrsamkeit beeindruckt. Als das Leibniz’sche System einer von christlicher Nächstenliebe als Gebot der Vernunft ausgehenden Gestaltung der Gesellschaft (und damit einer republikanischen Selbstregierung im Geiste Platons, die gerade nicht auf den Sturz eines Königs drang, sondern auf die Aus-Bildung von Philosophen-Königen, deren Regierung nach Grundsätzen vernünftiger Notwendigkeit das Gemeinwohl verfolgte) auch nach seinem Tod zunehmend Fürsprache auch in der gehobenen Bürgerschicht und im Adel erfuhr, wurde der Kampf gegen Leibniz intensiviert.

In diesem Kontext wurde die durchaus anspruchsvoll-differenzierte Philosophie übersimplifiziert und verzerrt als “System des Optimismus” dargestellt, um es wie von Voltaire geschehen, für Folgen verantwortlich zu machen, die nichts mit dem System zu tun hatten. Leibniz wurde also für die Katastrophen und Unvollkommenheiten einer Welt zum Sündenbock gemacht, die er sich zu Lebzeiten niemals hätte anhängen lassen, gegen die er sich jedoch nicht wehren konnte.

Dafür sprangen im Rahmen eines Wettbewerbs der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften (einer Institution, die ihre Entstehung einzig Leibniz verdankte), Mendelssohn und Leibniz — allerdings zunächst anonym — in die Bresche.

Noch vor dem von Bernstein in seiner Rede in London erwähnten Erdbeben von Lissabon wurde 1753 in Berlin ein Wettbewerb ausgeschrieben, der nur Vordergründig die Frage der Übereinstimmung von Ansichten des britischen Dichters Alexander Pope mit dem Leibniz’schen philosophischen Denksystem behandelte, im Kern jedoch Leibniz mit einem Dichter verglich und insofern das ihm unterstellte System des Optimismus quasi als Fiktion oder haltlose Erfindung zu diskreditieren, anstatt es ernsthaft philosophisch untersuchen zu lassen.

Diese maliziöse Tendenz haben in ihrer 1755 in Buchform veröffentlichten satirisch-bissigen Antwort Lessing und Mendelssohn prominent entlarvt. Schonungslos legen sie die Dürftigkeit der Ausschreibung einer königlichen Gelehrten Gesellschaft offen, die es besser hätte wissen müssen:

“Gott hat es so haben wollen, und weil er es so hat haben wollen, muß es gut sein: ist wahrhaftig eine sehr leichte Antwort, mit welcher man nie auf dem Trocknen bleibt. Man wird damit abgewiesen, aber nicht erleuchtet. Sie ist das beträchtlichste Stück der Weltweisheit der Faulen; denn was ist fauler, als sich bei einer jeden Naturbegebenheit auf den Willen Gottes zu berufen, ohne zu überlegen, ob der vorhabende Fall auch ein Gegenstand des göttlichen Willens habe sein können?” — Mendelssohn und Lessing, Aufgabe

Inhaltlich legen beide nicht nur die Dürftigkeit der Ausschreibung (und damit den Vorsatz einer Herabsetzung Leibnizens) dar, sonder stellen an wesentlichen Punkten auch richtig, wie das System zu verstehen ist, welches Leibniz selbst nie “Optimismus” genannt hat, sondern welches vom Jesuiten Castel 1737, also mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tod in einer offensichtlich bestellten Rezension des längst erschienenen Textes in verzerrender Weise genannt wurde. Mendelssohn und Lessing schreiben:

“Leibniz sagt: wo verschiedene Regeln der Vollkommenheit zusammengesetzt werden sollen, ein Ganzes auszumachen; da müssen notwendig einige derselben wider einander stoßen, und durch dieses Zusammenstoßen müssen entweder Widersprüche entstehen, oder von der einen Seite Ausnahmen erfolgen. Die beste Welt ist also nach ihm diejenige, in welcher die wenigsten Ausnahmen, und diese wenigen Ausnahmen noch darzu von den am wenigsten wichtigen Regeln geschehen. Daher nun entstehen zwar die moralischen und natürlichen Unvollkommenheiten, über die wir uns in der Welt beschweren; allein sie entstehen vermöge einer höhern Ordnung, die diese Ausnahmen unvermeidlich gemacht hat. Hätte Gott ein Übel in der Welt weniger entstehen lassen, so würde er einer höhern Ordnung, einer wichtigern Regel der Vollkommenheit zuwider gehandelt haben, von deren Seite doch durchaus keine Ausnahme geschehen sollte.” (…)

“Dennoch aber behauptet Leibniz in einem weit strengern Verstande als Pope, daß die mindeste Veränderung in der Welt einen Einfluß in das Ganze habe, und zwar weil ein jedes Wesen ein Spiegel aller übrigen Wesen, und ein jeder Zustand der Inbegriff aller Zustände ist. Wenn also der kleinste Teil der Schöpfung anders, oder in einen andern Zustand versetzt wird, so muß sich diese Veränderung durch alle Wesen zeigen; eben wie in einer Uhr alles, sowohl dem Raume, als der Zeit nach, anders wird, sobald das mindeste von einem Rädchen abgefeilet wird.” (…)

“Nach Leibnizens Meinung hingegen müssen notwendig alle Unvollkommenheiten in der Welt zur Vollkommenheit des Ganzen dienen, oder es würde sonst ganz gewiß ihr Außenbleiben aus den allgemeinen Gesetzen erfolgt sein. Er behauptet, Gott habe die allgemeinen Gesetze nicht willkürlich, sondern so angenommen, wie sie aus der weisen Verbindung seiner besondern Absichten, oder der einfachen Regeln der Vollkommenheit, entstehen müssen. Wo eine Unvollkommenheit ist, da muß eine Ausnahme unvermeidlich gewesen sein. Keine Ausnahme aber kann Statt finden, als wo die einfachen Regeln der Vollkommenheit mit einander streiten; und jede Ausnahme muß daher vermöge einer höhern Ordnung geschehen sein, das ist, sie muß zur Vollkommenheit des Ganzen dienen.” (…)

Friedrich Schiller hat sich übrigens in einer ähnlichen Konstellation indirekt und künstlerisch mit Voltaire auseinandergesetzt. Dieser hatte neben seinem Leibniz-Verriss auch die historische Figur der Jeanne d’Arc (Die Jungfrau von Orleans, wie der Titel einer romantischen Tragödie Schillers lautet) mit einer noch schlüpfrigeren “Dichtung” unter dem Titel La Pucelle (die Jungfrau) in den Schmutz gezogen. Das in seiner Ursprungsfassung noch obszönere “Poem” enthielt auch in der späteren “offiziellen” Version zahlreiche schlüpfrige Andeutungen. Schiller hat den Skandal in einem Gedicht — ohne Nennung von Voltaire — verarbeitet, in dem es u.a. heisst:

(…)
Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen
Und das Erhabne in den Staub zu ziehn,
Doch fürchte nicht! Es gibt noch schöne Herzen,
Die für das Hohe, Herrliche entglühn, (…)

— Friedrich Schiller, Das Mädchen von Orleans

Eine solches, schönes Herz schlug ganz eindeutig in der Brust von Kurt Huber.

Kurt Huber, Leibniz und der Humanismus

Wie perfide (sofern tatsächlich vorsätzlich bezweckt), zumindest aber töricht (falls nur dem Narzissmus des Maestro geschuldet) der Bernstein’sche Versuch einer Diskreditierung des großen humanistischen Universalgelehrten Leibniz war, wird daran deutlich, dass die Leibniz-Forschung im 20. Jahrhundert erst durch das Wirken von Professor Kurt Huber, dem Mentor der Mitglieder der Widerstandsgruppe “Die Weiße Rose” um die Geschwister Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst und Wilhelm Graf, einigermaßen korrigiert worden ist. Bezeichnender Weise geschah dies jedoch erst nachdem Huber im Sommer 1944 als Mitverschwörer hingerichtet worden war.

Kurt Huber - Leibniz Und Wir
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Kurt Huber, Mitverschwörer der Weißen Rose, Professor von Alexander Schmorell und mit diesem hingerichtet. Zeichnung von Ernst Haider, 1946

“Es war Kurt Huber nicht vergönnt, diese Biographie abzuschließen und gemäß dem Untertitel des Buches in Leibniz das „Bildnis eines deutschen Menschen“ einem darniederliegenden Deutschland vor Augen zu stellen. Aber durch seinen Tod hat er das vor Deutschland und der Welt auf andere Weise erfüllt. Die Absicht seines Werkes, zu Leibniz hinzuführen, ist gelungen, soweit das im Buche selber möglich ist; verwirklichen wird sie sich erst, wenn diese Biographie allen zugänglich ist und ihren Teil dazu beiträgt, unsere Zeit zu dem Philosophen hinzuführen, dessen Jahr wir heuer feiern.” — Inge Köck, Kurt Huber als Leibnizforscher, in: Kurt Huber zum Gedächtnis. Bildnis eines Menschen, Denkers und Forschers, Regensburg 1947, S. 157

Abschrift des Urteils gegen Alexander Schmorell, Kurt Huber und andere Mitglieder der "Weißen Rose"

Huber spannt eine Brücke zwischen Gottesliebe und Logik. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Leibniz die Logik viel grundlegender und umfassender verstanden hat, als es heute üblich ist. Die aus Leibnizens Weltbild notwendig folgende universelle Aufgabe der Logik wird heute nicht mehr gesehen. Logik wird deshalb zur “mathematischen Logik” verkürzt, d.h. die Logik wird als Teil der Mathematik betrachtet, anstatt als Grundlage der Mathematik und aller anderen Wissenschaften. Diese Verkürzung der Logik würde Leibniz nicht akzeptieren.” — Ralf Schauerhammer, Kurt Huber über Leibniz

Ralf Schauerhammer - Kurt Huber über Leibniz
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Bernstein, Wagner, Nietzsche und der Pessimismus

Trotz seiner bissigen Attacke gegen Leibniz gilt Leonard Bernstein als kultiviert und gebildet. Wie auch Richard Wagner, dessen Werke Bernstein natürlich auch oft dirigierte. Friedrich Nietzsche war ein großer Bewunderer Richard Wagners. Er, Nietzsche, ist es, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts dem Begriff der Tragödie eine ganz und gar neue und kulturell rückwärtsgewandte Bedeutung gab. Im Gegensatz zu Leibniz und dem ihm vorgeworfenen Optimismus hat Nietzsche darüber hinaus den Begriff des “Pessimismus” maßgeblich kulturell-philosophisch geprägt.

Ausgehend von der nihilistischen Behauptung der Nicht-Existenz objektiver Realität verformt Nietzsche die Tragödie in ihr Gegenteil. Er leugnet die Bedeutung der Tragödie für die Entwicklung der Idee des zivilisierten Athen und des klassisch-gebildeten (im Schillerschen Sinn veredelten) Griechenland und behauptet, “dass die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysos zum Gegenstand hatte, und dass der, längere Zeit hindurch einzig vorhandene, Bühnenheld eben Dionysos war … Alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne – Prometheus, Ödipus usw. – (sind) nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysos”.

Alles, so Nietzsche, sei nichts als ein “dionysischer Zauber”

“der, zum Schein die apollinischen Regungen auf's Höchste reizend, doch noch diesen Ueberschwang der apollinischen Kraft in seinen Dienst zu zwingen vermag. Der tragische Mythus ist nur zu verstehen als eine Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel; er führt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst verneint und wieder in den Schooss der wahren und einzigen Realität zurückzuflüchten sucht; wo sie dann, mit [Richard Wagners] Isolden ihren metaphysischen Schwanengesang also anzustimmen scheint:
‘In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, | In des Weltathem's wehendem All, — | Ertrinken, versinken, — unbewusst, — höchste, Lust!’
— Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Wie bei Bernhard Mandeville und dem sich auf dessen philosophische Absolution des Nutzens von lasterhaftem Verhalten berufenden Hellfire Club (“Fay-ce que tu voudras” = Tue, was du willst) ist es auch bei Nietzsche der Wille, der “in seiner ewigen Fülle seiner Lust” ein Spiel mit sich selbst spielt. Ein dionysischer, ekstatischer und irrationaler Wille.

“[N]ur als ein ästhetisches Phänomen [erscheint] das Dasein und die Welt gerechtfertigt: in welchem Sinne uns gerade der tragische Mythus zu überzeugen hat, dass selbst das Hässliche und Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt. Dieses schwer zu fassende Urphänomen der dionysischen Kunst wird aber auf directem Wege einzig verständlich und unmittelbar erfasst in der wunderbaren Bedeutung der musikalischen Dissonanz: wie überhaupt die Musik, neben die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter der Rechtfertigung der Welt als eines ästhetischen Phänomens zu verstehen ist. Die Lust, die der tragische Mythus erzeugt, hat eine gleiche Heimat, wie die lustvolle Empfindung der Dissonanz in der Musik. Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz percipirten Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschooss der Musik und des tragischen Mythus.”
— Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Nietzsches Worte an sich erscheinen schon seltsam genug, aber ihre Monstrosität wird erst deutlich, wenn man bedenkt, dass das „Tragische“ der „dionysischen Kunst“ echter Horror war: Der Begriff Tragödie leitet sich von den Schmerzensschreien der geopferten Kreaturen ab. Meist handelte es sich dabei um Ziegen oder Böcke. Daher Tragödie: τραγῳδία „Ziegengesang“ (von τράγος trágos „Ziegenbock“ und ᾠδή ōidḗ „Gesang“). In den dionysischen Rauschzuständen rissen einige Anhänger die Opfertiere bei lebendigem Leib auseinander und aßen ihr Fleisch roh (Omophagie). Allerdings wurden nicht nur Tiere auf diese Weise geopfert: Der Dichter Orpheus wurde von den Mänaden, meist weiblichen Anhängerinnen des Dionysos, zerfleischt. Der moderne Begriff „manisch” stammt vom griechischen μαίνομαι (maínomai, „rauschen, rasen, toben”). Nietzsche war vom Pessimismus und seiner Vorliebe für brutale und archaische Riten, die er als Kunst zu bezeichnen wagte, manisch besessen. er hat die Fähigkeit des Menschen zur Entwicklung durch Kunst geleugnet und durch sein Werk aktiv hintertrieben, indem er den Hass und die Hässlichkeit zur Kunst stilisierte.

Es ist dieses Irrationale, Willkürliche — und totalitär-menschenfeindlich Manipulative (wie sich aus dem von Nietzsche bewunderten Wagner und seinem Kult um das mystisch-Nordische ja auch der Nazi-Kult entwickelte) — was Gottfried Leibniz mit seiner Philosophie der vernünftigen Schöpfung ablehnte. Freilich wusste Leibniz, dass der Mensch ein Teil dieser Schöpfung und sein Handeln im moralischen Sinne von Bedeutung ist, da alles mit allem zusammenhängt. Dies ist der Kern seiner (Leibnizens) Monadologie.

Friedrich Schiller, dessen Begriff der Ästhetik als einer vernünftig zu verstehenden und auszufüllenden Kunst im Einklang mit den schöpferischen Gesetzen dem irrational-ekstatischen Begriff Nietzsches vorausging und diametral widerspricht, hat in der Französischen Revolution erlebt, wohin das dionysisch-umstürzlerische Wirken von manipulierten Massen führt. Seine Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen sind die vorweggenommene Antwort auf Nietzsche. Und auf Leonard Bernstein3.

1

Homers Illias ist im engeren Sinne keine Tragödie, sondern ein Epos. Als Epos wird ein Werk der lyrischen Dichtung bezeichnet, welches sich mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott, seinem Verhältnis zur Natur und seinem Verhältnis zu seinen Mitmenschen beschäftigt.

2

Percy Bysshe Shelley, Verteidigung der Poesie, in: Percy Bysshe Shelley, Ausgewählte Werke. Dichtung und Prosa, Leipzig 1985, S. 665

3

Zur Entlastung von Bernstein sei auf dieses Interview mit seiner Tochter verwiesen. Sie spricht über ihren Vater und seine Schwierigkeiten mit dem Komponieren und der Anpassung an von außen (durch sein Umfeld) an ihn gerichtete Erwartungen was Atonalität etc. angeht. Eine von Bernsteins Tochter erwähnte Biografie beschreibt zudem die schwierige Entstehungsgeschichte von Bernsteins Candide. Er hat ursprünglich den Auftrag (!) nicht annehmen wollen, war jedoch überredet worden. Die Erstellung zog sich dann dennoch sehr lange hin. Schließlich wurde seit den 1950ern immer wieder offen spekuliert, dass Bernstein offenbar homosexuell war und die Ehe mit seiner Frau ein (falscher) „Bart. Angesichts der Tatsache, dass Bernstein die Attacke auf Leibniz in London startete, erscheint die Vermutung nicht völlig aus der Luft gegriffen, dass der Druck, unter dem Bernstein Zeit seines Lebens stand, möglicherweise auch an dieser Stelle gewirkt hat. Dass also diese Attacke nicht eigentlich Bernstein zeigt, sondern den Bernstein, der im Außen agiert, wie es von ihm erwartet wurde. Vor einem solchen Hintergrund würde die Bernstein’sche Bitternis über das Leibniz’sche Vertrauen “in die Beste aller möglichen Welten” als Ausdruck tiefen Schmerzes menschlich nachvollziehbar. Bernstein hat dieses Vertrauen nicht aufbringen können.

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