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Schillers Statement gegen Voltaire: Die Jungfrau von Orleans
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Schillers Statement gegen Voltaire: Die Jungfrau von Orleans

Radio IBYKUS #6: Vernunfterkenntnis allein kann den Menschen nicht erklären: Es ist die Liebe, die uns zu Menschen macht

Herzlich willkommen, liebe Hörerinnen und Hörer von OS-Radio 104,8 und an den Podcasts zu einer neuen Ausgabe von Radio IBYKUS. Es ist ein Programm, das, wie Sie wissen, klassische Inhalte wieder stärker ins Bewusstsein rücken möchte. Wir tun dies mit eigenen Produktionen. Wir, das sind Siggi Ober-Grefenkämper, mein Kollege und ich, Uwe Alschner, mit eigenen Produktionen.

Wir haben aber auch das Glück, dass wir Fremdproduktionen fürs Radio vertonen können durch einen Kontakt zu dem Verein Dichterpflänzchen e.V. Dieser Verein, der auch eine eigene Internetseite hat, und wir empfehlen Ihnen, diese Seite aufzusuchen und sich da über das umfassende Programm der Dichterpflänzchen ein Bild zu machen, ist wirklich beeindruckend. Die Dichterpflänzchen haben unter anderem diverse Programme zur Aufführung gebracht, allerdings nicht in einer vertonten Version, sprich: es gab dort keine Aufzeichnungen, es gab dort keine Tonaufnahmen.

Deswegen sind wir dankbar, hier jetzt bei einer Auswahl von Programmen der Partner der Dichterpflänzchen sein zu können und Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, damit auch den Genuss dieser außerordentlichen Programme zukommen zu lassen.

Unser heutiges Programm — heute und auch in der nächsten Folge, denn es wird eine zweiteilige Produktion sein — dreht sich um die Jungfrau von Orléans von Friedrich Schiller. Dieses Stück ist vielleicht für den einen oder anderen noch gewärtig. Andere haben nur vom Namen davon gehört, aber kennen es nicht. Es gilt jedenfalls manchmal als etwas fremd, etwas aus der Welt.

Und da fällt der Zugang zuweilen schwer. Das liegt daran, dass in der Jungfrau von Orléans verschiedene Ebenen ineinander verwoben sind. Obwohl sich Schiller in diesem Drama so weit wie in keinem anderen von der Geschichte entfernt, existiert aber dennoch die historische Jeanne d'Arc. Selbstverständlich gibt es den Bezug auf die politische Situation und die Ereignisse zu Schillers Lebzeit und die Bezüge zur Literatur und Philosophie. Das Drama gilt wohl deswegen als schwierig, weil keine dieser Ebenen überbewertet oder verkürzt werden darf, wenn man versucht, Schillers Wirken und Absicht als Künstler zu verstehen. Wir wollen nun versuchen, das zu tun.

— Bei der Uraufführung der "Jungfrau von Orléans" wurde Schiller vom Publikum begeistert gefeiert. Trotzdem wurde das "romantische Trauerspiel" ausgerechnet von den Romantikern gering geschätzt. Während der Befreiungskriege wurde Johanna zum Vorbild für die Gründung der deutschen Nation erhoben, auch weil zuvor, während der französischen Besatzung durch Napoleon, das Drama über die französische Heldin in Deutschland verboten worden war. Sicher, Schiller idealisiert das Wirken seiner dramatischen Figur Johanna, z.B. indem er die Versöhnung der französischen Partei mit Burgund, welche in Wirklichkeit erst nach dem Tode der historischen Johanna stattfand, als ihr Werk darstellt.

Johanna von Orleans, Zeichnung von August Friedrich Precht, Schiller-Galerie, Brockhaus, 1859

Diese Vereinigung war für die Beendigung des Hundertjährigen Krieges der wesentliche Schritt und nicht so sehr die Entsetzung von Orleans. Aber das war kein Grund, Johanna zur Nationalistin zu machen und Schiller zum Nationaldichter zu verkürzen. Reinhard Buchwald sieht in dieser Vereinnahmung Schillers als Nationaldichter das wesentliche Problem der Schillerrezeption in der Zeit, nachdem die deutsche Nation zustande gekommen war. Die nationale Bewertung der Jungfrau war wohl auch der Grund, warum das Drama nach dem Zweiten Weltkrieg, z.B. 1947 durch Gerhard Storz, geradezu als Vergehen an der historischen Jeanne d’Arc angesehen wurde. Es ist jedoch für das Verständnis des heute noch als besonders schwierig geltenden Stücks nicht hilfreich, wenn man Schillers Jungfrau von Orleans mit der historischen oder gar der politischen Brille betrachtet. Im Folgenden wird versucht, einen Zugang zu Schillers Drama zu gewinnen, indem die Verbindung zu den für das Drama relevanten theoretischen Schriften Schillers aufgezeigt wird, also der Zusammenhang mit Schillers Herzensanliegen, die schöne Kunst weiterzuentwickeln.

Warum schuf Friedrich seine “Jungfrau von Orleans” als “romantisches Trauerspiel”? Schiller hätte nach der Wallenstein-Trilogie und seiner “Maria Stuart” eine weitere historische Tragödie schreiben können, und er wollte das ursprünglich auch tun. Das geht aus seinem “Brief An***” vom November 1801 hervor. Er schrieb darin:

“Die Jungfrau ist in ihrer Art… ein beneidenswerter Stoff für den Dichter… darum haben sich auch von jeher so viele Dichter und Dichterlinge an ihm vergriffen und versündigt… Gewiss, es kostete mir keinen geringen Kampf, als ich mit den ersten vier Akten fast ganz fertig war, von der Geschichte in das romantische Feld der Möglichkeit überzuschweifen.”

Bereits am 24. Dezember 1800 hatte Schiller an Goethe über die Johanna folgendes geschrieben:

“Das historische ist überwunden und doch, soviel ich urteilen kann, in seinem möglichen Umfang benutzt, die Motive sind alle poetisch und größtenteils von der naiven Gattung.”

Der Vorwurf, Schiller habe die historische Johanna in seinem Drama nicht ausreichend beachtet, geht genauso ins Leere wie die Historisierung und Politisierung des Dramas. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Gründe Schiller veranlassten, die Geschichte zu “überwinden”? Und wenn dem so ist, sind dann nicht alle Handlungen und Ereignisse auf der Bühne metaphorisch zu betrachten? Zum Beispiel das durch die schicksalsschweren Donnerschläge angekündigte Gewitter. Es erscheint deshalb so wundersam, weil es uns Johannas in die Natur gespiegelten Seelenkampf zeigt, wobei Schiller wahrscheinlich Shakespeares König Lear als Vorbild vor Augen schwebte.

Einen Hinweis auf Schillers Absichten gibt das Gedicht "Das Mädchen von Orleans". Es wurde erstmals im Taschenbuch für Damen im Jahr 1802 veröffentlicht und hatte dort die Überschrift:

Voltaires Pucelle und die Jungfrau von Orleans

Das edle Bild der Menschheit zu verhöhnen,
Im tiefsten Staube wälzte dich der Spott,
Krieg führt der Witz auf ewig mit dem Schönen,
Er glaubt nicht an den Engel und den Gott,
Dem Herzen will er seine Schätze rauben,
Den Wahn bekriegt er und verletzt den Glauben.

Doch, wie du selbst, aus kindlichem Geschlechte,
Selbst eine fromme Schäferin wie du,
Reicht dir die Dichtkunst ihre Götterrechte,
Schwingt sich mit dir den ew'gen Sternen zu,
Mit einer Glorie hat sie dich umgeben,
Dich schuf das Herz, du wirst unsterblich leben.

Es liebt die Welt das Strahlende zu schwärzen,
Und das Erhabne in den Staub zu ziehn,
Doch fürchte nicht! Es gibt noch schöne Herzen,
Die für das Hohe, Herrliche entglühn,
Den lauten Markt mag Momus unterhalten,
Ein edler Sinn liebt edlere Gestalten.

— Momos ist übrigens der griechische Gott des Spottes und der Schmähsucht. Schiller wandte sich gegen Voltaires bissige und schlüpfrige Satire, die damals in Abschriften in französischen Boudoirs und an deutschen Adelshöfen kursierte. Die Königin-Mutter in Berlin ließ sie sich vorlesen, während die Prinzessin Wilhelmine atemlos im Nebenzimmer lauschte, Friedrich der Große drückte seine Bewunderung in überschwänglichen Lobesworten aus.

Voltaire lässt Johanna z.B. nackt auf einem Esel in die Schlacht reiten. Ihr wird durch himmlisches Geheiß bestimmt, den Krieg gegen England für Frankreich zum Sieg zu führen, indem sie ihre Jungfräulichkeit für ein Jahr verteidigt. Ihre Heldentat besteht nun darin, innerhalb der vorgeschriebenen Zeit ihre Jungfräulichkeit gegen lüsterne Mönche, Adlige und einen Esel zu verteidigen, um sich nach Ablauf der Frist endlich ungehindert den Freuden der Liebe hinzugeben. Der Freidenker Voltaire geißelte Kirche, Religion und Glauben vom skeptischen Standpunkt der radikalen Aufklärung und lehnte dabei alles, was nicht mit dem menschlichen Verstand erklärt werden kann, als irrationalen Aberglauben ab.

Wenn es Schiller nun daran lag, seine Johanna gegen diese Satire zu verteidigen, dann konnte er das nur, indem er Voltaire’s Verkürzung des Menschen auf ein reines Verstandeswesen etwas entgegen setzte, was auf die Wesenszüge des Menschen verweist, die jenseits dessen liegen, was dem “Esprit” zugänglich ist. Nur indem er “dem edlen Bild” des Menschen insgesamt gegen den Hohn und Spott Voltaire’s wieder die wahre Größe gab, konnte er auch die historische Johanna von dem Schmutz befreien, durch den sie Voltaire gezogen hatte. Das wäre mit einem historischen Drama nicht möglich gewesen. Deswegen schuf Schiller mit seinem romantischen Trauerspiel ein Idyll, welches – wenn es gut gespielt wird – den Zuschauer so hoch erhebt, dass er “den göttlichen Funken”, den jeder Mensch in sich trägt, subjektiv erfährt. Und dieser Funke entflammt an der ganz unvernünftigen und logisch nicht erklärbaren tätigen Liebe, die Johanna ihren Mitmenschen und ihrem Volk entgegenbringt. 

— Der junge Schiller war mit der Philosophie der englischen Aufklärung bereits in der Karlsschule durch seinen Lehrer und Freund Jakob Friedrich von Abel bekannt geworden und hatte in den “Philosophischen Briefen” beeindruckend beschrieben, warum er “Skeptizismus und Freidenkerei” als gefährliche Fieberattacken des menschlichen Geistes ansah, welche bestenfalls durch “die unnatürliche Erschütterung, die sie in gut organisierten Seelen verursachen, zuletzt die Gesundheit befestigen helfen” können.

Die “Philosophischen Briefe” beginnen damit, dass Julius, der jüngere der beiden Freunde, dem älteren Raphael beschreibt, welche Erschütterung diese Philosophie in ihm ausgelöst hatte:

“Selige paradiesische Zeit,.. da ich noch vor einem Teufel bebte und desto herzlicher an der Gottheit hing. Ich empfand und war glücklich...Du hast mir den Glauben gestohlen, der mir Frieden gab. Du hast mich verachten gelehrt, wo ich anbetete...Glaube Niemand, als deiner eigenen Vernunft, sagtest du… Was die Vernunft erkennt, ist die Wahrheit. Ich habe dir gehorcht, habe alle Meinungen aufgeopfert, habe gleich jenem verzweifelten Eroberer alle meine Schiffe in Brand gesteckt, da ich an dieser Insel landete, und alle Hoffnung zur Rückkehr vernichtet... Deine Lehre hat meinem Stolze geschmeichelt... Ich fühlte mich ganz frei… Alle Dinge im Himmel und auf Erden haben keinen Wert, keine Schätzung, als so viel meine Vernunft ihnen zugesteht... Welcher Vorrat für meinen Durst nach Erkenntnis! aber – unglückseliger Widerspruch der Natur! – – dieser freie emporstrebende Geist ist in das starre unwandelbare Uhrwerk eines sterblichen Körpers geflochten… Wohin ich nur sehe, Raphael, wie beschränkt ist der Mensch!.. Wecke ihn nicht!.. Die Vernunft ist eine Fackel in einem Kerker… Ersetzt mir deine Weisheit, was sie mir genommen hat?.. Raphael, ich fordre meine Seele von dir. Ich bin nicht glücklich.“

Der weitere Verlauf der “Philosophischen Briefe” beschreibt nun, wie Julius seine Seele wiederfindet, wie er den Mangel, den der Verweis auf die menschliche Vernunft und nur die Vernunft beheben kann. Der “Fieberanfall” macht Julius nämlich eines deutlich: Die Vernunft hat zwar, und ganz zurecht, den naiven Glauben an Himmel und Hölle zerstört, aber Vernunfterkenntnis allein kann den Menschen in seiner Gesamtheit nicht erklären, vor allem kann sie Liebe nicht erklären, und Liebe gehört zum Menschsein genauso wie die Vernunft, ja sie ist die Grundlage dafür, dass sich der Mensch, durch “Verwechselung” seiner selbst mit dem Mitmenschen als selbständiges und autonomes Wesen entwickeln und so erst seine Vernunft gebrauchen kann. Das ist die Lösung, die Julius findet. Und das ist die Lösung, die auch Johanna in dem romantischen Trauerspiel finden wird.

— Die folgende Stelle aus den “Philosophischen Briefen” ist für das Verständnis der “Jungfrau von Orleans” sehr wichtig:

“Liebe also – das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der allmächtige Magnet in der Geisterwelt, die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend – Liebe ist nur der Widerschein dieser einzigen Urkraft, eine Anziehung des Vortrefflichen, gegründet auf einen augenblicklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.”

“Denke dir eine Wahrheit, mein Raphael, die dem ganzen Menschengeschlecht auf entfernte Jahrhunderte wohl tut – setze hinzu, diese Wahrheit verdammt ihren Bekenner zum Tode, diese Wahrheit kann nur erwiesen werden, nur geglaubt werden, wenn er stirbt. Denke dir dann den Mann mit dem hellen umfassenden Sonnenblicke des Genies, mit dem Flammenrad der Begeisterung, mit der ganzen erhabenen Anlage zu der Liebe. Lass in seiner Seele das vollständige Ideal jener großen Wirkung emporsteigen – lass in dunkler Ahnung vorübergehen an ihm alle Glücklichen, die er schaffen soll – lass die Gegenwart und die Zukunft zugleich in seinem Geist sich zusammendrängen, und nun beantworte dir, bedarf dieser Mensch der Anweisung auf ein anderes Leben?” 

“Liebe, Liebe leitet nur
Zu dem Vater der Natur,
Liebe nur die Geister.

Hier, mein Raphael, hast du das Glaubensbekenntnis meiner Vernunft, einen flüchtigen Umriss meiner unternommenen Schöpfung. So wie du hier findest, ging der Samen auf, den du selber in meine Seele streutest.”

Wenn Johanna auf der Bühne das Schwert gegen den äußeren Feind Frankreichs erhebt, dann kämpft sie nicht nur als Retterin der Nation, sondern führt gleichzeitig den inneren Kampf, den Schiller in den “Philosophischen Briefen” dargestellt hat. Mit Talbot besiegt Johanna in Schillers Drama nicht nur den mächtigen Feldherrn der Engländer, der die historische Jean d’Arc um 22 Jahre überlebte, sondern den knallharten Empiristen und bedingungslosen Skeptiker, dem alles Transzendente nur Aberglaube ist. Und in seiner trotzigen Größe reißt Talbot auch Voltaire mit sich zum Orkus hinab.

Auch die Lösung dieses inneren Kampfes durch Johannas Liebe entspricht dem, was in den “Philosophischen Briefen” dargelegt ist. Von dieser Warte aus wird jedenfalls das seltsame Rätsel, dass Johanna gerade die Liebe zu Lionel als Verfehlung empfindet, verstehbar. Doch zuerst muss geklärt werden, um welche Liebe es genau geht.

Friedrich Schiller stellt dem Drama einen Prolog voran, der mit dem eindrucksvollen Monolog der Johanna endet, worin sie beschreibt, wie “des Geistes Ruf” an sie erging und ihr in einer Vision von Gott verkündigt wurde:

“Geh hin! Du sollst auf Erden für mich zeugen.
In raues Erz sollt du die Glieder schnüren,
Mit Stahl bedecken deine zarte Brust,
Nicht Männerliebe darf dein Herz berühren
Mit sünd’gen Flammen eitler Erdenlust…

Denn wenn im Kampf die Mutigsten verzagen,
Wenn Frankreichs letztes Schicksal nun sich naht,
Dann wirst du meine Oriflamme tragen
Und, wie die rasche Schnitterin die Saat,
Den stolzen Überwinder niederschlagen;
Umwälzen wirst du seines Glückes Rad,
Errettung bringen Frankreichs Heldensöhnen,
Und Rheims befrein und deinen König krönen!”

Wieso ergeht dieser Ruf ausgerechnet an Johanna? Wieso nicht an den König Karl, einen Grafen Dunois oder an Johannas Vater Thibaut? Was zeichnet Johanna vor allen diesen Personen aus? Die Antwort finden wir wenige Zeilen vor dem zitierten Monolog: Johanna liebt ihre Mitmenschen, sie ist erfüllt von einer bedingungslosen Liebe zu ihrem Volk, welche sie ausdrückt, indem sie den Staat im Bild des edlen und fürsorglichen Königs personifiziert.

“Wir sollen keine eigne Könige
Mehr haben, keinen eingebornen Herrn –
Der König, der nie stirbt, soll aus der Welt
Verschwinden – der den heil’gen Pflug beschützt,
Der die Trift beschützt und fruchtbar macht die Erde,
Der die Leibeignen in die Freiheit führt,
Der die Städte freudig stellt um seinen Thron –
Der dem Schwachen beisteht und den Bösen schreckt,
Der den Neid nicht kennet, denn er ist der Größte,
Der ein Mensch ist und ein Engel der Erbarmung
Auf der feinsel’gen Erde. – Denn der Thron
Der Könige, der von Golde schimmert, ist
Das Obdach der Verlassenen – hier steht
Die Macht und die Barmherzigkeit – es zittert
Der Schuldige, vertrauend naht sich der Gerechte,
Und scherzet mit den Löwen um den Thron!
Der fremde König, der von außen kommt,
Dem keines Ahnherrn heilige Gebeine
In diesem Lande ruhn, kann er es lieben?
Der nicht jung war mit unsern Jünglingen,
Dem unsre Worte nicht zum Herzen tönen,
Kann er ein Vater sein zu seinen Söhnen?”

— Johannas Vater Thibaut antwortet darauf mit dem Zynismus des Normalbürgers.

“ – Kommt an die Arbeit! Kommt! Und denke jeder
Nur an das Nächste! Lassen wir die Großen,
Der Erde Fürsten um die Erde losen,
Wir können ruhig die Zerstörung schauen,
Denn sturmfest steht der Boden, den wir bauen.
Die Flamme brenne unsre Dörfer nieder,
Die Saat zerstampfe ihrer Rosse Tritt,
Der neue Lenz bringt neue Saaten mit,
Und schnell erstehn die leichten Hütten wieder!”

Das lässt bereits den Konflikt erahnen, der sich im Verlauf des Dramas noch zwischen Johanna und ihrem Vater entwickeln wird.

— Da das Wort “Vaterlandsliebe” in der Vergangenheit so schrecklich missbraucht wurde, dass man es fast nicht in den Mund nehmen möchte, muss genau untersucht werden, was mit Johannas “Liebe für ihr Volk” gemeint ist. Das ist auch wichtig, um zu verstehen, was es bedeutet, wenn im Verlauf des Dramas Johannas Liebe zum Vaterland mit der Liebe zu dem Mann Lionel in Konflikt gerät.

Schiller liefert uns den Schlüssel dazu in einer herrlichen, kleinen Schrift mit dem Titel “Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde”. Unter anderem wird dort beschrieben, welche Wirkung die Geburt des ersten Kindes auf die Beziehung der Eltern hat:

“Bis jetzt hatten beide nur ein gesellschaftliches Verhältnis, nur eine Gattung von Liebe erkannt, weil jedes in dem andern nur einen Gegenstand vor sich hatte. Jetzt lernten sie mit einem neuen Gegenstand eine neue Gattung von Liebe, ein neues moralisches Verhältnis kennen – elterliche Liebe. Dieses Gefühl von Liebe war von reinerer Art als das erste, es war ganz uneigennützig, da jenes erste bloß auf Vergnügen, auf wechselseitiges Bedürfnis des Umgangs gegründet gewesen war.

Sie betraten also mit dieser neuen Erfahrung schon eine höhere Stufe der Sittlichkeit - sie wurden veredelt.

Aber die elterliche Liebe, in welcher sich beide für ihr Kind vereinigten, bewirkte nun auch eine nicht geringe Veränderung in dem Verhältnis, worin sie bisher zueinander gestanden hatten. Die Sorge, die Freude, die zärtliche Teilnahme, worin sie sich für den gemeinschaftlichen Gegenstand ihrer Liebe begegneten, knüpfte unter ihnen selbst neue und schönere Bande an. Jedes entdeckte bei dieser Gelegenheit in dem andern neue sittliche Züge, und eine jede solcher Entdeckungen erhöhte und verfeinerte ihr Verhältnis. Der Mann liebte in dem Weibe die Mutter, die Mutter seines geliebten Sohns. Das Weib ehrte und liebte in dem Mann den Vater, den Ernährer ihres Kindes. Das bloß sinnliche Wohlgefallen aneinander erhob sich zur Hochachtung, aus der eigennützigen Geschlechtsliebe erwuchs die schöne Erscheinung der elterlichen Liebe.”

— Schiller spricht nicht von der Liebe an sich, sondern von verschiedenen “Gattungen von Liebe”. Die Liebe des Paares wird durch die Erweiterung einer Bezugsperson “erhöht” und zur “elterlichen” Gattenliebe “veredelt”. Diese Liebe, und nicht ein abstrakter “Familienvertrag”, konstituiert das wesentliche Fundament der Familie. Weitet man diesen Gedanken auf größere Gemeinschaften aus, dann gelangt man schließlich zum Staatswesen, welches nicht durch einen abstrakten “Gesellschaftsvertrag” gegründet wird, sondern auf der Grundlage tätiger Nächstenliebe ruht. Führt man diesen Gedanken weiter, so gelangt man schließlich zur “Menschheitsfamilie” des Heiligen Augustinus.

Verwirklicht wird diese Liebe jedoch nur durch die tätige Nächstenliebe, die sich im Handeln gegenüber den real existierenden Mitmenschen praktisch erweisen muss. Sobald die Liebe sich auf eine Gesellschafts- oder Staatsidee richtet und den individuellen “Nächsten” aus dem Zentrum rückt, beginnt der Missbrauch der Begriffe “Menschheit” oder “Vaterland”. Wie leicht “Idealisten” in diese Missbrauchsgefahr geraten, zeigt Schiller in seinem Don Karlos am Beispiel der Figur des Marquis Posa, den dieser Fehler zum Verräter am Freund und an der Menschheit macht.

Johanna ist erfüllt von tätiger Nächstenliebe. Als Hirtin, so erfahren wir schon im Prolog, liebt sie ihre Herde und rettet mutig das kleinste Lamm aus den Fängen des “Tigerwolfs”. Und sie liebt ihre Mitmenschen, sie will diese vor dem Kriegsleid bewahren. Die Erscheinung der heiligen Maria und die Verkündigung ihrer Mission werden vor diesem Hintergrund zum bildlichen Ausdruck von Johannas Vaterlandsliebe. Sie will ihrem Volk ein guter Hirte und liebevoller König sein.

Dieser Standpunkt Schillers gibt auch Johannas Keuschheitsgelübde einen tieferen Sinn und macht erst wirklich verständlich, warum sich Johanna in dem Augenblick schuldig fühlt, als ihre sinnliche Liebe zu Lionel über die in ihrem Herzen “veredelte” Form der Vaterlandsliebe die Oberhand gewinnt.

— Aber Johannas schönes Bild des durch den König personifizierten Staates entspricht nicht der Realität. Diese wird dem Zuschauer in den nächsten Szenen durch die Schwäche und Mutlosigkeit des Königs von Frankreich unmittelbar vor Augen geführt. Johanna beschreibt nicht den realen König, sondern den “König, der nie stirbt”, d.h. eine Staatsidee, die getragen ist von liebender Fürsorge des Regenten für die Bürger – eine Idee, die weder einem logischem Kalkül noch der Vernunfterkenntnis entspringt, sondern allein dem liebenden Herzen. Diese Liebe zu ihrem Volk ist die Grundlage, auf der Johanna später, wenn sie an ihrer himmlischen Berufung verzweifelt – genau wie der Julius der “Philosophischen Briefe” –, ihre Seele wiederfinden kann.

Zu Beginn sehen wir Johanna aus ihrem Schäferidyll in die Welt der Politik und des Krieges gerissen, sie folgt dem “Ruf des Geistes” und sagt:

“Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften,
Ihr traulich stillen Täler lebet wohl!
Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln,
Johanna sagt euch ewig Lebewohl!...
Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen,
Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,
Den Feldruf hör’ ich mächtig zu mir dringen,
Das Schlachtross steigt, und die Trompeten klingen.”

Bereits hier, im Prolog, beginnt ein Bruch, der dann am Ende des vierten Aktes für jeden offen zu Tage tritt. Johanna verfolgt ihren Auftrag, aber dafür hat sie ihren inneren Frieden verloren. So überlegen sie nach außen auch scheint, innerlich ist sie zerrissen und durch den von außen an sie ergangenen “Ruf des Geistes” bestimmt.

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Das kommt auch in der Mongomery-Szene deutlich zum Ausdruck, deren Bezug zum 21. Gesang der Ilias immer wieder betont wird. Wenn man den Vergleich anstellt, dann besteht jedoch ein entscheidender Unterschied. Im 21. Gesang der Ilias ist es der freie Wille von Achill, d.h. sein “eigenes Gelüst”, keinen Feind zu schonen, nachdem sein Freund Patroklos von Hektor umgebracht wurde. Im Unterschied dazu “muss” Johanna Montgomery töten, weil sie von der Götterstimme “getrieben” ist. Sie sagt:

“Ich bin nur eine Jungfrau, eine Schäferin
Geboren, nicht des Schwerts gewohnt ist diese Hand,
Die den unschuldig frommen Hirtenstab geführt.
Doch weggerissen von der heimatlichen Flur,
Vom Vaters Busen, von der Schwestern lieber Brust,
Muss ich hier, ich muss – mich treibt die Götterstimme, nicht
Eignes Gelüsten – euch zu bitterm Harm, mir nicht
Zur Freude, ein Gespenst des Schreckens, würgend gehen,
Den Tod verbreiten und sein Opfer sein zuletzt!"

— Kurz darauf reflektiert Johanna die geradezu dämonische Kraft in dem Schwert, das ihr die "erhabene Jungfrau" für ihre Mission zugewiesen hat:

“Erhabne Jungfrau, du wirkst Mächtiges in mir!
Du rüstest den unkriegerischen Arm mit Kraft,
Dies Herz mit Unerbittlichkeit bewaffnest du.
In Mitleid schmilzt die Seele und die Hand erbebt,…
Schon vor des Eisens blanker Schneide schaudert mir,
Doch wenn es Not tut, alsbald ist die Kraft mir da,
Und nimmer irrend in der zitternden Hand regiert
Das Schwert sich selbst, als wär’ es ein lebend’ger Geist.”

— Und später beschreibt Johanna, im 1. Auftritt des 4. Aufzugs, welche Seelenqualen ihr die aufgegebene Mission bereitet, mit den Worten:

“Schuldlos trieb ich meine Lämmer
Auf des stillen Berges Höh.
Doch du rissest mich ins Leben,
In den stolzen Fürstensaal,
Mich der Schuld dahinzugeben,
Ach, es war nicht meine Wahl!”

Oft wird ja der entscheidende Fehler Johannas darin gesehen, dass sie ihr Gelübde der Jungfräulichkeit bricht, als sie sich in den Engländer Lionel verliebt und nicht tötet, und ihre Erlösung davon sei die Überwindung dieses Fehlers, worauf sie zu ihrer alten Mission zurückfindet. Dass diese oberflächliche Betrachtungsweise nicht stimmen kann, geht schon aus dem bereits zitierten Brief von Schiller vom November 1801 hervor. Darin schreibt er:

“Die Jungfrau muss, da sie [gegenüber dem Schwarzen Ritter] ein Wort spricht, das die Nemesis beleidigt, und wobei sie ihren Auftrag vom Himmel weit überschreitet: ‘Nicht aus den Händen leg' ich dieses Schwert, als bis das stolze England untergeht,’ für solchen Übermut notwendig büßen. Die Strafe folgt ihr in der ‘Verliebung’ auf dem Fuße nach… Am Ende ist doch der ganze Händel mit dieser Verliebung… nur eine Prüfung.”

Johanna begegnet Lionel in der Schlacht. Die “Verliebung” findet statt.

Die “Verliebung” ist nicht der wesentliche Punkt, sondern nur Folge von Johannas “Übermut”. Beides sind nur Ergebnisse der für Johanna immer unerträglicheren Spannung zwischen der natürlichen Abgeschlossenheit der Schäferidylle, die sie verlassen hat, und der einseitigen Getriebenheit in der Welt des Krieges, in die sie ihr Auftrag gestürzt hat. Der Schwarze Ritter konnte sie “erschrecken und verwirren”, und nur weil sie ihrer Sache nicht ganz sicher ist, spricht sie diese trotzig-übermütigen Worte.


Liebe Hörerinnen und Hörer von Radio IBYKUS, wir sind nun am Ende des ersten Teiles von Schillers Johanna. Diese Frage, die wir nun offen lassen, wird dann auch gleichzeitig der Beginn und die Fortsetzung im Teil 2 in vier Wochen darstellen.

Für heute hören Sie noch bis zu den 19 Uhr Nachrichten und unserer Verabschiedung kurz zuvor noch das Konzert von Beethoven für Violoncello und Klavier, Opus 69. Aus diesem Stück, haben wir bereits im Verlauf dieser Sendung einige Passagen zur Untermalung eingeblendet. Sie hören jetzt den Schlussteil dieses Stücks, also das, was noch bis zu den Nachrichten übrig bleibt von diesem wunderschönen Stück.

Ja, das waren eben Andrés Vera am Violoncello und My-Hoa Steger am Klavier mit Opus 69, dem Konzert für Violoncello und Klavier von Ludwig van Beethoven, Solisten des Chors und Orchesters des Schillerinstituts New York.

Diese Sendung war der erste Teil des Programms “Johanna von Orléans von Friedrich Schiller”. Ein Programm der Dichterpflänzchen, ausgearbeitet von Ralf Schauerhammer.

Wir sind sehr dankbar, dass wir dieses Programm hier vorstellen durften. Wir, das sind Siggi Ober-Grefenkämper und ich, Uwe Alschner, die Sendeverantwortlichen für die Sendung. Wir kommen wieder mit dem zweiten Teil in vier Wochen. Wieder um 18.03 Uhr nach den Nachrichten hier auf OS Radio 104,8. Wir danken ganz besonders Frank Paul, unserem Kollegen, der die schwierige Aufgabe bravourös gemeistert hat, hier die ganzen verschiedenen technischen Einspielungen wunderbar zusammenzubringen. Wir freuen uns auf die nächste Ausgabe und sind bis dahin
Ihre Uwe Alschner und Siggi Ober-Grefenkämper.

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