Freude schöner Götterfunken! Herzlich willkommen, liebe Hörerinnen und Hörer, hier auf OS Radio 104,8 zum ersten Donnerstag im Monat [6. März 2025], dem Sendeplatz von Radio IBYKUS. Mein Name ist Uwe Alschner und gemeinsam mit meinem Kollegen Siggi Ober-Grefenkämper bin ich sendeverantwortlich für das folgende Programm, für die nächsten 57 Minuten.
Im Hintergrund hören Sie unsere Erkennungsmelodie. Das ist ein Auszug aus dem Schlusssatz von Beethovens neunter Sinfonie, gespielt in der wissenschaftlichen Stimmung C256 Hertz. Das ist ein Spezifikum, was nicht unwichtig ist für die Qualität und die Wirkung von klassischer Musik, nämlich die Stimmung des Kammertons in der Höhe des C auf 256 Hertz. Aber dazu bestimmt noch später einmal.
Heute wollen wir Sie verwöhnen mit einem Programm, das nicht aus unserer Feder stammt, sondern das wir zur Verfügung gestellt bekommen haben von den Dichterpflänzchen. Das ist ein Verein, der sich die Pflege der Dichtkunst, der Poesie zur Aufgabe gemacht hat, insbesondere der klassischen Dichtkunst. Und diese Dichterpflänzchen haben im Laufe ihres Bestehens schon viele wunderbare
Programme zu unterschiedlichsten Themen genannt. Zusammengestellt heute präsentieren wir Ihnen das Programm zu Schillers Gedicht Die Bürgschaft des Freundes. Und wir danken dabei ganz herzlich Herrn Ralf Schauerhammer und Herrn Lutz Schauerhammer für die Bereitstellung und auch für die Mitwirkung in diesem Programm. Bevor wir mit dem Programm beginnen, hören Sie gleich noch ein bisschen Musik und zwar von Franz Schubert aus seiner Oper “Die Bürgschaft”, das ist ein Fragment, aber auch daraus einige Takte für Sie.
Ein Regenstrom aus Felsenrissen, Er kommt mit Donners Ungestüm, Bergtrümmer folgen seinen Güssen, Und Eichen stürzen unter ihm, Erstaunt mit wollustvollem Grausen Hört ihn der Wanderer und lauscht, Er hört die Flut vom Felsen brausen, Doch weiß er nicht, woher sie rauscht, so strömen des Gesanges Wellen Hervor aus nie entdeckten Quellen...
Das ist die erste Strophe aus Schillers Gedicht »Die Macht des Gesanges«. Es beschäftigt sich mit der Frage, wie der geniale Künstler das Herz des Hörers auf schwanker Leiter der Gefühle wiegen kann. Und gleich zu Anfang beschreibt Schiller diese Macht des Poeten, welche sich aus nie entdeckten Quellen speist. Bitte halten Sie dieses in Erinnerung, wenn wir uns nun mit Schillers großem Freundschaftsgedicht »Die Bürgschaft« beschäftigen. Vielleicht ist es ja möglich, einen Einblick zu bekommen, wie diese nie entdeckten Quellen in der Tiefe fließen. Lassen wir uns überraschen.
— Wie Sie vielleicht wissen, war Friedrich Schiller auch Historiker und lehrte in Jena als Professor Geschichte. Dass Schiller ein ganz außergewöhnlicher Professor war, wird klar, wenn man seine berühmte Antrittsvorlesung liest. Er fordert darin seine Studenten auf, nicht zu lernen, um Karriere zu machen, sondern um genialische Köpfe zu werden, die nach Wahrheit streben. Er schließt mit den Worten:
“Indem die Geschichte den Menschen gewöhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammenzufassen und mit seinen Schlüssen in die ferne Zukunft vorauszueilen: so verbirgt sie die Grenzen von Geburt und Tod, die das1 Leben des Menschen so eng und so drückend umschließen, so breitet sie optisch täuschend sein kurzes Dasein in einen unendlichen Raum aus, und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber. (...) Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich - ohne es zu wissen oder zu erzielen - alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben. Aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben: kostbare, teure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen! Und welcher unter Ihnen, bei dem sich ein heller Geist mit einem empfindenden Herzen gattet, könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein, ohne dass sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann? Ein edles Verlangen muss in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen. Wie verschieden auch die Bestimmung sei, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet - etwas dazusteuern können Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zu der wahren Unsterblichkeit meine ich, wo die Tat lebt und weitereilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte.”
Schiller macht seinen Studenten deutlich, dass Erkenntnis wenig mit Lernen und Faktenwissen zu tun hat. Den Weg zu wahrer Erkenntnis kann nur gehen, wer die moralische Entscheidung trifft, sein erworbenes Wissen sinnvoll anzuwenden. Nur wer etwas dazu steuert, zur Menschheitsgeschichte, gewinnt wirkliches Wissen. »Reines Verstandeswissen reicht nicht aus. Schiller sagt sogar, wer es einmal so weit gebracht hat, seinen Verstand auf Unkosten seines Herzens zu verfeinern, dem ist das Heiligste nicht heilig mehr, dem ist die Menschheit, die Gottheit nichts.« Die Räuber, solche herzenskalten Missmenschen in der Figur des Franz Mohr. Hören wir, wie sich Franz die Kanallie, im ersten Akt dem Zuschauer vorstellt:
“Ich habe große Rechte, über die Natur ungehalten zu sein, und bei meiner Ehre, ich will sie geltend machen. - Warum bin ich nicht der erste aus Mutterleib gekrochen? warum nicht der einzige? Warum musste sie mir diese Bürde von Hässlichkeit aufladen? gerade mir?... Mord und Tod! Wer hat ihr die Vollmacht gegeben, jenem dieses zu verleihen und mir vorzuenthalten?... Warum ging sie so parteilich zu Werke? Nein! nein! ich tu' ihr Unrecht. Gab sie uns doch Erfindungsgeist mit, setzte uns nackt und armselig ans Ufer dieses großen Ozeans Welt - Schwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump ist, geh unter! Sie gab mir nichts mit; wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache. Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten; Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnet beim Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze... Frisch also! mutig ans Werk! - Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, dass ich nicht Herr bin. Herr muss ich sein, dass ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht.”
— Wenn man das hört, hat man den Eindruck, Schiller habe bereits den modernen, nur von Egoismus getriebenen Homo oeconomicus gekannt, den die liberale Wirtschaftswissenschaft in den letzten Jahrzehnten zum Maß aller Dinge erklärte. Aber diese Art von Ellenbogenfreiheit eröffnet keine Bahn zur Unsterblichkeit. Und das klägliche Ende des Franz Mohr im Drama Die Räuber führt das dem Zuschauer deutlich vor Augen.
[Musik]
Schillers Gedicht »Die Bürgschaft« berichtet von zwei Freunden, von denen der eine vom Tyrannen Dionysus zum Tode verurteilt ist. Um einen kurzen Aufschub zu erwirken, bürgt der Freund mit dem Leben für dessen Rückkehr. Dieser entfernt sich und als ihm gesagt wird, er komme zu spät zurück, denn der Bürger sei bereits hingerichtet, begibt er sich trotzdem wieder in die Hand des Tyrannen und sagt, »Er schlachte der Opfer Zweie | und glaube an Liebe und Treue.« Wir werden dieses Gedicht nun in einem geschichtlichen Zusammenhang betrachten, den man nur erkennt, wenn man mit den Augen von Schillers Universalgeschichte sehen gelernt hat und die moralische Frage im Sinne Schillers beantwortet.
Doch zuerst ein warnendes Beispiel, wie arg man daneben liegt, wenn man das nicht tut.
Berthold Brecht Über Schillers Gedicht "Die Bürgschaft" O edle Zeit, o menschliches Gebaren! Der eine ist dem andern etwas schuld. Der ist tyrannisch, doch er zeigt Geduld Und lässt den Schuldner auf die Hochzeit fahren. Der Bürge bleibt. Der Schuldner ist heraus. Es weist sich, dass natürlich die Natur Ihm manche Ausflucht bietet, jedoch stur Kehrt er zurück und löst den Bürgen aus. Solch ein Gebaren macht Verträge heilig. In solchen Zeiten kann man auch noch bürgen. Und, hat's der Schuldner mit dem Zahlen eilig Braucht man ihn ja nicht allzustark zu würgen. Und schließlich zeigte es sich ja auch dann: Am End war der Tyrann gar kein Tyrann!
Welch armselige Reduktion auf materialistische Schulden und Bürgen. Und dabei war Herr Brecht ein sehr intelligenter Kopf. Aber er mochte Schiller nicht. Es ist nicht zu übersehen, dass Brecht in seinem gesamten Werk immer wieder den kleinen, gemeinen Menschen zeigt, der sich mit den Verhältnissen abfindet, während Schiller den Menschen erhebt und versucht, in seinen Zuschauern die Größe des Menschen wachzurufen.« Die beiden sind sehr gegensätzlich. Da Schiller auf das reduktionistische Gedicht von Herrn Brecht nicht mehr antworten kann, tun wir es folgendermaßen:
Ralf Schauerhammer Brechts Würgschaft "Die Klassiker, sie sind uns lieb und teuer, Man reduziere sie aufs Material! Denn wie ein Buch, geworfen in das Feuer, Noch wärmt, so nützt der Stoff uns allemal." So spricht Herr Brecht und demonstriert, Worauf sich Schillers "Bürgschaft" reduziert. Bereits der erst Vers lässt hoffen, Brecht legt sein Innerstes uns offen. O edle Zeit, o menschliches Gebaren!“ Ja, das Gebaren lebt in Krämerseelen, Die nur in Barem ihre Waren zählen, Die niemals edel oder menschlich waren. „Der eine ist dem andern etwas schuld.“ In Schillers herrlichem Gedicht Steht Freundschaft wider Tyrannei; Von Schuld ist dort die Rede nicht. Doch heißt es, dass man Wahrheit schuldig sei, Wenn man von eines andern Werken spricht. „Der ist tyrannisch, doch er zeigt Geduld Und lässt den Schuldner auf die Hochzeit fahren.“ Da regt in Schillers Zeilen sich Tumult Und der Tyrann, der dort seit Jahren Geächtet angeprangert stand, Er tritt hervor, reicht Brecht die Hand Und spricht: "Wie wahr hast du geschrieben: Geduld, nicht arge List, hat mich getrieben!" Er sprichts, und seine Augen eilen auf des Gedichtleins Abschlusszeilen. „Und schließlich zeigte es sich ja auch dann: Am End war der Tyrann gar kein Tyrann!“ Dem Leser wird im Kopf ganz dumm. Ihm holpert und poltert im Bauche herum Der üble Gehalt dieser gärigen Zeilen; Ihn drängts. Er muss zum Örtchen eilen, Wo er von Form und Inhalt bei Zeit Sich heftig in reimlosen Rhythmen befreit. Dann rät er uns streng, mit fahlem Gesicht: "Lest Schiller selbst! Brecht -- nicht!"
Die Klassiker aufs Material reduzieren, wie Brecht es fordert, macht blind. Große Poeten greifen mit einem untrüglichen Gespür Stoffe und Fabeln auf, in denen die tiefsten Erfahrungen der Menschheit ruhen, um diese weiterzuentwickeln, indem sie zu dieser unvergänglichen Kette ein neues Glied dazu steuern. Nicht das Material ist wesentlich, sondern die historische Wahrheit der poetischen Idee, welche lebt und weiter eilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte. Vielleicht gelingt es uns, davon heute einen Eindruck zu vermitteln. Wir gehen in der Geschichte nun fast 2400 Jahre zurück, um den wahren Ursprung von Schillers Gedicht »Die Bürgschaft« zu finden.
[Musik]
— Ich habe da gleich eine Frage: Hat es den Tyrannen, der in Schillers Bürgschaft Dionys heißt, in Wirklichkeit gegeben oder ist er nur eine reine Fantasiegestalt?
In der Tat hat es einen sehr bekannten Tyrannen Dionysus gegeben, der in Syrakus lebte. Es ist Dionysus der Ältere, ein beinharter Herrscher, von dem auch erzählt wird, er habe den Spartaner Damokles, die andauernde Mordgefahr, unter der ein Tyrann leben müsse, spüren lassen, indem er diesen an seiner Tafel köstlich bewirtete, über dem Sitz des Damokles aber ein scharfes, nur an einem Pferdehaar hängendes Schwert habe anbringen lassen. Dionysus der Ältere starb nicht, wie er befürchtete, durch die Hand eines Mörders, sondern an einer Krankheit, worauf sein Sohn Dionysus der Jüngere, gerade 30 Jahre alt und von weicherem Charakter, die Herrschaft übernahm.
— Es gab also zwei Tyrannen namens Dionysios in Syrakus, welche gemeint sein könnten? Und welcher ist es dann, der in der Bürgschaft vorkommt?
Es war ganz sicher Dionysus der Jüngere. Ja, wir können sogar zurückverfolgen, dass der allererste, der die Geschichte erzählte, die Schillers Bürgschaft zugrunde liegt, genau dieser jüngere Dionysus war. Doch um deren ganze Bedeutung zu verstehen, müssen wir zuerst den Zusammenhang kennen, in dem dieses geschah.
— Wie ist das möglich? Es ist schon über 2000 Jahre her.
Wir können das Wesentliche noch heute in Platons siebten Brief nachlesen, einem ganz erstaunlichen Geschichtsdokument. Was ist denn so besonders daran? Vieles, wir werden sehen. Schon die Situation Platons und die Art und Weise, wie er diesen Brief schreibt, ist ganz außergewöhnlich. Platon schreibt den Brief nämlich an die Mörder seines besten Freundes. Man muss sich das vorstellen.
Gegen alle Widerstände und praktischen Erwägungen der Machtpolitik sagt Platon den Mördern Dion, dass sie unbedingt dessen Politik fortsetzen müssen. Denn in diesem historischen Moment hinge die Zukunft Siziliens davon ab, ob es gelänge, einen neuen Staatstyp, den Staat der Philosophenkönige, zu schaffen, den er und Dion angestrebt haben. Aber hören wir doch Platon selbst.
“Wäre es aber hier unter meinem Freund Dion tatsächlich zur Vereinigung von Philosophie und Herrschermacht in einer Person gekommen, so wäre dies ein leuchtendes Vorbild für die ganze Menschheit, Helenen wie Barbaren geworden.”
— Und haben die neuen Machthaber darauf gehört?
Leider nicht. Und genau wie Platon es voraussagte, war damit das Schicksal des Reiches in Sizilien und auch der griechischen Kultur besiegelt.
— Oft wird Platon als reiner Denker und etwas weltfremder Philosoph dargestellt, aber hier scheint er doch eher wie ein Politiker gehandelt zu haben.
Ich meine, wenn jemand wirklich Philosoph ist, also jemand, der die Wahrheit liebt, dann muss er politisch eingreifen, um der Wahrheit in der Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Aber viel wichtiger als meine Meinung ist, was Platon im siebten Brief selbst dazu schreibt. Er sagt nämlich, dass er schon als Jüngling vom Drang nach staatsmännischer Betätigung ganz erfüllt gewesen sei.
Doch die Ränkespiele und Ungerechtigkeit und vor allem, wie man seinen Freund Sokrates ungerecht zum Tode verurteilte, entfernten ihn von der Politik — und von Athen.
“Dabei fuhr ich zwar fort, darüber nachzudenken, wie sich in dieser Hinsicht und im gesamten staatlichen Leben überhaupt ein Umschwung zum Besseren finden ließe. Für das eigene praktische Eingreifen wollte ich aber auf den günstigen Zeitpunkt warten. Schließlich aber kam ich zu der Überzeugung, dass alle jetzigen Staaten samt und sonders politisch verwahrlost sind. Es wird also die Menschheit, so erkläre ich, nicht eher von ihren Leiden erlöst werden, bis entweder die berufsmäßigen Vertreter der echten und wahren Philosophie zur Herrschaft im Staate gelangen, oder bis die Inhaber der Regierungsgewalt in den Staaten infolge einer göttlichen Fügung sich zur ernstlichen Beschäftigung mit der echten Philosophie entschließen. Von dieser Überzeugung durchdrungen kam ich nach Italien und Sizilien.”
Platon ging im Jahr 389 v. Chr. erstmals nach Syrakus. Damals herrschte noch Dionysus, der Ältere. Eine politische Veränderung der Zustände erwies sich als unmöglich. Ganz vergeblich war diese erste Reise Platons nach Syrakus jedoch nicht. Im Gegenteil, sie war von unschätzbarem Gewinn. Platon lernte nämlich Dion kennen. Dion war damals etwa 20 Jahre jung und wie Platon sofort erkannte, glaubte er, die Syracusaner müssten sich der staatlichen Freiheit und einer Verfassung auf Grundlage der besten Gesetze erfreuen.
“Dion war, als ich mit ihm zusammenkam, noch jung, ausgerüstet mit hervorragender Fassungskraft überhaupt. Besonders aber die damals von mir ihm erteilten Lehren eignete er sich so rasch und mit solchem Eifer an, wie keiner der Jünglinge, mit denen ich es bis dahin zu tun gehabt hatte. Er fasste den Vorsatz, weiterhin ein Leben zu führen, das in stärkstem Gegensatz stehen sollte zu dem der meisten Italiker und Sizilier. Denn die Tugend stand seinem Herzen weit näher als die Sinnenlust und sonstige Üppigkeit.”
Platon fuhr unverrichteter Dinge wieder von Sizilien ab. Als aber im Jahre 367 v. Chr. Dionysus, der Ältere, starb und Dionysus, der Jüngere, sein Nachfolger wurde, hoffte Dion, diesen jüngeren Dionysus für Platons Staatsidee gewinnen zu können und bat Platon, erneut nach Syrakus zu kommen, um ihm zu helfen, den Tyrannen zu erziehen. Platon überlegte:
“Wenn man jemals daran gehen wollte, meine Entwürfe für Gesetzgebung und Staatsordnung zu verwirklichen, so sei jetzt der Zeitpunkt, wo man den Versuch wagen müsste. Erfüllt von solchen Gedanken segelte ich in gutem Vertrauen von der Heimat ab. Vor allem bestimmte mich dabei die Achtung vor mir selbst,
Ich wollte vor mir selbst nicht so schlechthin als ein bloßer Vertreter der Theorie erscheinen, der sich aus freien Stücken niemals an die Tat heranwaage. So dann wollte ich den Verdacht vermeiden, zum Verräter zu werden an Dion, der tatsächlich in nicht geringe Gefahr geraten war. Mochte ihm der Tod bestimmt sein, oder mochte er verbannt von Dionysius als Flüchtling vor mir erscheinen und mich mit folgenden Worten anreden? “Du verstehst dich darauf, junge Männer zum Guten und Rechten anzuweisen und dadurch stets gegenseitige Freundschaft und Kameradschaft unter ihnen zu stiften. In dieser Beziehung hast du es deinerseits meiner Bitte gegenüber an dir fehlen lassen. Und so erscheine ich denn vertrieben aus Syrakus jetzt vor dir.”
Wenn er also mit solcher Rede vor mich träte, welche ehrenhafte Antwort hätte ich darauf? Es gibt keine.”
— Ich finde das sehr bewegend, wie Platon einerseits aus Selbstachtung nicht nur ein bloßer Vertreter der Theorie zu sein und gleichzeitig aus Liebe für seinen jungen Freund diese lebensgefährliche Entscheidung trifft.
Ja, und das, obwohl Platons Hoffnungen für das gefährliche Vorhaben des Freundes nicht sehr groß waren. In der Tat kam es aber noch schlimmer, als Platon ursprünglich vermutete.
“Bei meiner Ankunft aber fand ich, um mich kurz zu fassen, die ganze Umgebung des Dionysius in voller Zwietracht. Und was Dion anbelangt, so hörte man nichts als Verleumdungen, Erstreben nach der Tyrannis. Ich bemühte mich nun nach Kräften für ihn einzutreten, doch nur mit geringem Erfolg. Und nach Ablauf von guten drei Monaten ließ Dionysius den Dion, unter der Beschuldigung die Herrschaft an sich reißen zu wollen, auf ein kleines Fahrzeug schaffen und mit Schimpf und Schande außer Landes bringen.”
Platon selbst wurde von Dionysus ein Wohnsitz auf der Burg angewiesen. Er musste in Syrakus bleiben. Dionysus wünschte aber, dass ich ihn mehr loben sollte als den Dion und dass ich der Freundschaft mit ihm selbst, der mit Dion, entschieden den Vorrang gebe. Platon konnte Dionysus aber nicht als Freund bezeichnen, weil dieser kein wirklicher Freund der Philosophie war, sondern dieses nur vorgab.
“Dass dies bei Dionysius der Fall war, und zwar in hohem Grade, das war mir gleich nach der Ankunft klar. Man muss nämlich solchen Leuten die philosophische Aufgabe in ihrem ganzen Umfang, muss das Eigentümliche des Gegenstandes, die zahlreichen Schwierigkeiten und die große dazu erforderliche Mühe deutlich zu erkennen geben. Ist nämlich, wer das hört, ein wahrer Freund der Weisheit, so glaubt er Kunde erhalten zu haben von einem Wege, der in ein Wunderland führt, das zu erreichen er fortab alle Kraft einsetzen müsse. Und so mutet er denn sich und dem Führer auf diesem Wege die äußerste Anstrengung zu und lässt nicht locker, bis er entweder das Ziel erreicht oder die Fähigkeit erlangt hat, ohne den Wegweiser sein eigener Führer zu sein. Von dieser Anschauung durchdrungen geht ein solcher seinen Berufsgeschäften zwar nach, welcher Art sie auch sein mögen, bleibt aber vor allem immer der Philosophie treu ergeben.”
— Das klingt doch fast wörtlich wie der letzte Satz von Schillers Universalgeschichte.
Unterbrich Platon bitte nicht, er war gerade im Begriff noch etwas sehr Wichtiges zu sagen.
“Denn es steht mit der wahren Philosophie nicht so wie mit anderen Lehrgegenständen. Es lässt sich nicht in Worte fassen, sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmetem wissenschaftlichen Verkehr und aus entsprechender Lebensgemeinschaft tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst.”
Bei Dionysos schlug die Philosophie in der Seele keine Wurzeln und deshalb konnte er auch niemals Platons Freund werden.
— Wenn ich das alles richtig verstanden habe, dann war die Situation die folgende. Platon und Dion waren wirkliche und tiefe Freunde, weil sie vom gleichen Ziel für den gerechten Staat beseelt waren. Der Tyrann Dionysos hätte gerne mit Platons Freundschaft geprahlt. Gleichzeitig verfolgte er aber Dion, weil dieser ihm angeblich nach dem Leben trachte und deshalb Tyrann werden wolle.
Ganz recht, und nun berichtet Platon über eine Begebenheit, welche in Bezug auf das Gedicht die Bürgschaft besonders interessant ist. Dionysus sagte nämlich zu Platon,
Worte des Dionysios
“Ich werde es mit Dion folgendermaßen halten. Er soll nach Rückerstattung seines Vermögens an ihn im Peloponnes leben. Indes gilt dies nur unter der Voraussetzung, dass er nicht etwa Anschläge gegen mich macht. Und dafür sollst du mir Bürge sein.”
Platon sah sich zwar persönlich in einer verzweifelten Lage, empfand es aber gleichwohl als eine unumgängliche Pflicht, noch ein Jahr auszuharren. Nachdem dann Platon Syrakus verlassen konnte, sammelte Dion in Athen Mitstreiter. Kurz darauf landete Dion tatsächlich mit nur 800 Söldnern in Sizilien und zog kampflos in Syrakus ein. Dionysus floh nach Korinth.
Dion wurde als gesetzlicher Herrscher der Stadt anerkannt und versuchte, Platons Ideen in die Tat umzusetzen, scheiterte aber am Widerstand der Befürworter der Tyrannis. Er konnte sich nur drei Jahre an der Macht halten, dann wurde er ermordet.
— Das ist in der Tat eine große Übereinstimmung zwischen der wirklichen Geschichte und Schillers Bürgschaft. Dion wurde von dem Tyrannen Dionysos des Mordkomplotts angeklagt. Platon und Dion waren Freunde, Platon musste für Dion bürgen und der Tyrann wollte einer der Freunde sein? Und vorhin hast du schon gesagt, diese Übereinstimmung sei kein Zufall, denn Dionysos habe als erster die Geschichte der Bürgschaft erzählt. Woher wissen wir denn das?
[Musik]
“Als Dionys von Syrakus
aufhörte, ein Tyrann zu sein,
ward er ein - Schulmeisterlein.”
— Was ist denn das?
Diesen Spottvers hat in der Zeit, als Schiller noch in der Karlsschule war, Christian Schubart auf Karl Eugen von Württemberg gemacht. Möglicherweise war dieser Spottvers Einer der Gründe für die zehnjährige Festungshaft, die der tyrannische Herzog über Schubert verhängte. Der Vers führt zur Antwort auf deine Frage. Offensichtlich wusste Schubert, dass Dionysos in der Tat Lehrmeister für Sprache und Schrift war, und zwar in der Zeit, als er von Dion vertrieben in Korinth lebte. Schubert besaß umfassendes Wissen über die Geschichte der Musik und kannte sicherlich auch den aristotelischen Musiktheoretiker Aristoxenos, der damals ebenfalls in Korinth lebte. Und von diesem Aristoxenos berichtete wiederum im dritten Jahrhundert nach Christus ein gewisser Jamblichos in einem Bericht über die Geschichte der Pythagoreer das folgende.
Aus dem Bericht des Jamblichos über die Pythagoreer
“Aristoxenos spricht so. Jene Männer enthielten sich des Wehklagens, der Tränen und aller solcher Dinge so viel als immer möglich, wie nicht weniger der Schmeichelei, des Bittens und Flehens und ähnlicher Dinge. So erzählte uns Dionysos, nachdem er aus der Herrschaft vertrieben seinen Wohnsitz ins Korinth aufgeschlagen hat, zum Öfteren, was sich mit Damon und Phinthias zugetragen hat. Es galt eine Bürgschaft auf Leben und Tod. Es wurde gegen Phinthias eine Intrige gesponnen, ein Ankläger gegen ihn bestellt, der ihn beschuldigte, einen gefährlichen Anschlag gegen Dionysos gefasst zu haben. Dies wurde von jenen als Zeugen bestätigt und die Anklage bis zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit eingeleitet.
Phintias geriet über diese Rede in große Bestürzung. Als der Tyrann aber ausdrücklich erklärte, dass alles bereits genau untersucht und er ein Kind des Todes sei, erwiderte er, dass er, wenn es so über ihn beschlossen sei, nun um den übrigen Teil des Tages bitte, um seine und Damons Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.
Er bat daher zu diesem Behufe um Loslassung und stellte Damon als Bürgen. Dionysus erzählte nun, dass er verwundert gefragt habe, ob es einen Menschen gäbe, der in einer Kapitalsache Bürgschaft leisten wolle. Auf die Bejahung wurde Damon herbeigeführt, der, als er die Geschichte gehört, sogleich einwilligte, Bürger zu werden und da zu bleiben, bis Phintias zurückkehre.
Der Tyrann sei nun in großes Erstaunen versetzt worden. Diejenigen aber, welche von Anfang an die Verschwörung angestifteten, hätten über Damon gespottet, als sei er verloren. Als ich aber die Sonne schon zum Untergang neigte, kam Phintias, um sich der Todesstrafe zu stellen. Darüber waren alle von großem Staunen ergriffen. Dionysos selber aber bat, die Männer umarmend und küssend, ihn als Dritten in ihren Bund aufzunehmen. Dies sagt Aristoxenos mit der Versicherung, es von Dionysos selbst gehört zu haben.”
— Aber die Namen stimmen gar nicht. Die Freunde heißen nicht Platon und Dion, sondern Damon und Phintias.
Aber der Name Dionysos stimmt doch. Dionysos hat diese Geschichte erzählt.
— Ja, das stimmt.
Schiller hat uns ja schon in seiner Antrittsvorlesung gesagt, dass die Tat lebt und weiter eilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte. Aber im Ernst, stell dir einmal vor, Dionysus sitzt von Dion vertrieben in Korinth. Dort erzählt er dem Aristoxenos diese Bürgschaftsgeschichte. Um wen wird es sich dabei wohl gehandelt haben, nach allem, was wir aus Platons siebten Brief über die wirkliche Geschichte erfahren haben?
— Platon und Dion, denke ich. Aber es wäre noch schöner, wenn die Namen stimmen würden.
Du musst auch bedenken, dass Aristoxenos schon 370 vor Christus in Tarent geboren wurde, und Jamblichos die Geschicht nicht von ihm persönlich erzählt bekam, sondern von seinem Lehrer Porphyrios, der sie wiederum von Nikomachos von Gerasa (er lebte im 1. Jahrhundert nach Christus) überliefert bekam. Bei Porphyrios werden die Namen Phintias und Damon übrigens noch in einem anderen Zusammenhang erwähnt, nämlich im Zusammenhang der „Hilfeleistungen und Bundestreue unter Pythagoreern“. Er stellt Phintias und Damon mit Archytas und Platon in eine Reihe. Platon wird also als Pythagoreer bezeichnet und Archytas habe sich bei Dionysios dafür verwendet, dass Platon ohne Gefährdung seines Lebens nach Athen zurückkehren dürfe.
— Ich verstehe, was du meinst. Jamblichos macht Platon zum Pythagoreer, weil er die Geschichte unter dem Blickwinkel der Bundestreue der Pythagoreer berichtet und nicht so, wie sie von Platon im siebten Brief selbst erzählt wurde.
Jedenfalls darf man sich nicht nur auf Namen versteifen, sondern muss die Taten im Vordergrund sehen und berücksichtigen, dass jeder, der die Geschichte weitererzählt, sie aus seinem eigenen Blickwinkel bewertet und jeweils leicht verändert. Eine nette Version der Geschichte ist übrigens auch von dem Kirchenvater Ambrosius in “De Virginibus“ überliefert. Er lebte von 340 bis 397 und schmückte die Geschichte im Sinne der christlichen Moral aus. Möchtest du sie hören?
— Natürlich, gerne!
Aber ich denke, wir machen erst einmal eine kleine Pause, damit sich die Zuhörer etwas erfrischen können.

Ja, meine Damen und Herren, und genau das wollen wir Ihnen jetzt auch ermöglichen, dass Sie sich ein bisschen erfrischen. Allerdings nicht in einer kürzeren Pause, sondern leider in einer vierwöchigen Pause. Denn wir kommen erst wieder mit dem zweiten Teil dieses Programms der Bürgschaft in vier Wochen am ersten Donnerstag im April 2019.
Bis dahin hören Sie bitte jetzt hier noch ein Stück. Wir haben begonnen das Programm mit einer Rezitation von Schillers Stück “Die Macht des Gesanges”. Und dieses wunderbare Gedicht ist auch vertont worden, und zwar von Carl Czerny. Und diese Vertonung, gespielt vom American Symphony Orchestra, hören wir jetzt zu hoffentlich ihrer großen Freude.
Und dann verabschieden wir uns noch zum Schluss von Ihnen mit dieser Sendung.
Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Hörerinnen und Hörer von Radio IBYKUS auf OS Radio 104,8. Das war sie leider, die dritte Ausgabe von Radio IBYKUS hier auf OS Radio 104,8. Heute mit einem ganz besonderen Programm, nämlich “Die Bürgschaft des Freundes, Teil 1”. Dieses Programm geht zurück auf die Dichterpflänzchen.
Wir danken ganz besonders Herrn Ralf Schauerhammer und Herrn Lutz Schauerhammer für die Bereitstellung dieses Programmes und auch für die Mitwirkung für die Rezitative. Wir freuen uns, wenn es Ihnen gefallen hat, meine Damen und Herren! Wir danken den Kollegen von OS Radio 104,8 für die Breitstellung des Sendeplatzes. Wir danken insbesondere Frank Paul, unserem Kollegen, für den Schnitt dieser Sendung, der war diesmal etwas aufwendiger.
Wir kommen wieder am 3. April. Um 18.03 Uhr nach den Nachrichten. Wenn Sie dann wieder einschalten wollen, freuen wir uns sehr!
Bis dahin können Sie diese Sendung weiterempfehlen. Sie können uns auch nachhören, überall dort, wo Sie Podcasts hören können. Finden Sie uns unter Radio Ibikus oder auf ganzmenschsein.substack.com.
Und da ist auch Radio Ibikus und dann hören Sie uns dort. Vielen Dank, machen Sie es gut. Siggi Ober-Grefenkämper und Uwe Alschner sagen “Tschüss”.
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