Ganz Mensch sein
Radio IBYKUS
„Solch ein Reiz ist in der Tugend, dass sie sogar auf einen Tyrannen Eindruck macht!“
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„Solch ein Reiz ist in der Tugend, dass sie sogar auf einen Tyrannen Eindruck macht!“

IBYKUS #04 - „Die Bürgschaft des Freundes“ - Ein Programm aus der Feder der "Dichterpflänzchen" - Teil 2
Cross-Post von Ganz Mensch sein
Es mag nicht sofort offensichtlich sein, aber Schillers Ballade "Die Bürgschaft" ist ein Werk über die Notwendigkeit der Ausbildung von "Philosophenkönigen". In dieser Hinsicht ist die jüngste Ausgabe von "Radio IBYKUS" ein Thema für die Morgenstunden! -

Herzlich Willkommen, liebe Freundinnen und Freunde von Radio IBYKUS. Wie an jedem ersten Donnerstag im Monat möchten wir — das sind Siggi Ober-Grefenkämper, mein Kollege, und ich, Uwe Alschner — Sie mit Themen und Inhalten klassischer Dichtkunst, Musik und Bildung vertraut machen. Wir danken OS-Radio 104,8 für die Bereitstellung eines Sendeplatzes im Rahmen der Richtlinien des Niedersächsischen Landesmediengesetzes, welches Bürgern wie uns die Möglichkeit eröffnet, selbst auf Sendung zu gehen. Für die Inhalte sind also wir und nicht OS-Radio 104,8 verantwortlich.

Im Hintergrund hören Sie den Schlusssatz aus Beethovens 9. Sinfonie, Ode an die Freude in einer Aufnahme des Chorus des Schiller-Instituts in der wissenschaftlichen Stimmung C256 Hertz. Das ist unsere Erkennungsmelodie, auf die wir gerne zurückgreifen.

Ibykus war ein Dichter im antiken Griechenland, der von Friedrich Schiller zum Gegenstand einer seiner Balladen gemacht wurde. Wenn Sie interessiert, was es mit ihm auf sich hatte und auch warum wir ihn zum Namensgeber unserer Sendung gemacht haben, können Sie die entsprechende Folge dazu im Archiv auf Spotify, Apple Music oder anderen Podcast-Anbietern unter dem Suchbegriff “Radio Ibykus” nachhören.

Vor einem Monat haben wir Ihnen in unserer jüngsten Folge den ersten Teil eines Programms vorgestellt, welches sich mit Friedrich Schillers Ballade, die Bürgschaft des Freundes, beschäftigte. Heute wollen wir Ihnen den zweiten Teil daraus präsentieren. Urheber dieses Programms über “die Bürgschaft” sind jedoch nicht wir, sondern ist ein Verein namens Dichterpflänzchen e.V., auf den wir während unserer Recherchen gestoßen sind und der bereits zahlreiche hochkarätige Programme über klassische Stoffe veröffentlicht hatte, allerdings nicht als Audioformat. Im Gespräch mit dem Dichterpflänzchen-Vorstand Ralf Schauerhammer ist dann schließlich die Idee entstanden, mit der “Bürgschaft” einen Versuch zu starten, die Inhalte der Programme zu vertonen.

Wir danken Herrn Schauerhammer und seinem Bruder für das Vertrauen und auch für die Mitwirkung als Rezitatoren! Wenn Sie mehr über Herrn Schauerhammer und Dichterpflänzchen erzählen, erfahren möchten, empfehle ich Ihnen einen Besuch auf meiner Website www.ganzmenschsein.substack.com, wo unter anderem ein Beitrag von ihm, Herrn Schauhammer, über Transhumanismus veröffentlicht worden ist.

Nun jedoch zum zweiten Teil des Programms über “die Bürgschaft des Freundes”. Im ersten Teil hatten wir die Vorgeschichte dieses Stoffes im klassischen Griechenland um die zwei Tyrannen namens Dionysos vorgestellt und auch beleuchtet, wie Schillers Gedicht von Kritikern wie Bertholt Brecht bewusst verzerrt und missverstanden worden ist. Heute setzen wir das Programm dort fort und stellen Ihnen auch vor, wie Schiller überhaupt auf die Idee kam, die Bürgschaft des Freundes zu behandeln.

Zuvor jedoch spielen wir Ihnen einen Musiktitel passend zum Thema. Es handelt sich dabei um die Arie »Die Mutter sucht ihr liebes Kind« aus Franz Schuberts unvollendeter Oper »Die Bürgschaft«. Diese Oper behandelt ebenfalls den klassischen Stoff um Dionys und Möros, ist aber keine Vertonung von Schillers Gedicht.

Sie hören eine Aufnahme des Rotterdam Philharmonic Orchestra unter Ebo de Waart. Es singt Elly Ameling. Auch die weiteren musikalischen Einspielungen sind, soweit nicht anders bezeichnet, Auszüge aus Stücken von Franz Schubert.

Nun zu der bereits vor der Pause angekündigten Geschichte von Ambrosius aus “De Virginibus”.

Die Geschichte des Ambrosius

Aber auch die philosophischen Schulen loben die Pythagoreer, Damon und Pythias bis in den Himmel, von denen der eine, zum Tode verurteilt, sich eine Frist ausbat, um die Seinigen einem Schutzherrn anzuempfehlen. Der Tyrann aber verlangte, voll arger List, weil er für unmöglich hielt, einen zu finden, er solle ihm einen Bürgen stellen, der für ihn hingerichtet würde, wenn er selbst zögere. Was von beiden rühmlicher, weiß ich nicht. Beides war rühmlich. Der eine fand den Bürgen des Todes, der andere bot sich dar. Als nun der Verurteilte zögerte, weigerte sich der Stellvertreter, mit heiterem Antlitz, nicht, zu sterben. Da er hingeführt wurde, kehrte der Freund zurück, legte den Nacken unter das Beil, bot den Hals dar. Da bat der Tyrann voll Verwunderung, dass den Philosophen die Freundschaft lieber gewesen als das Leben, dass er selber von denen, welche er verbannt hatte, in den Freundschaftsbund mit aufgenommen würde. Solch ein Reiz ist in der Tugend, dass sie sogar auf einen Tyrannen Eindruck macht.

Das hat Schiller zur Grundlage seines Gedichts die Bürgschaft gemacht.

— Nein, nicht direkt. Das kann man übrigens anhand der Namen sehen. In der ersten Fassung von Schillers Bürgschaft heißt der Freund nämlich Mörus und erst für die Prachtausgabe änderte Schiller den Namen in Damon um.

Na, da bin ich aber gespannt. Jetzt möchte ich aber genau wissen, wie Schiller das Gedicht geschrieben hat.

— Am 15.12.1797 hatte Schiller in einem Brief an Goethe über den Mangel an poetischem Stoff geklagt. Am nächsten Tag schickte Goethe aus seiner Bibliothek die im Jahre 1674 gedruckte Fabelsammlung des Hyginus.

Aus einem Brief von Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe

Jena, der 28. August 1798. Was Ihnen mit den griechischen Sprichwörtern zu begegnen pflegt, dies Vergnügen verschafft mir jetzt die Fabelsammlung des Hyginus, den ich eben durchlese. Es ist eine eigene Lust, durch diese Märchengestalten zu wandeln, welche der poetische Geist belebt hat.

Man fühlt sich auf dem heimischen Boden und von dem größten Gestaltenreichtum bewegt. Ich möchte deswegen auch an der nachlässigen Ordnung des Buches nichts geändert haben. Man muss es gerade rasch hintereinander durchlesen, wie es kommt, um die ganze Anmut und Fülle der griechischen Fantasie zu empfinden.

Damit ist klar dokumentiert, in welcher genauen Form die Freundschaftsgeschichte schließlich Schiller in die Hände gekommen ist. Ich bin gespannt, wie sie sich bei Hyginus anhört.

Die Erzählung des Hyginus

Als in Sizilien der höchst grausame Tyrann Dionysus herrschte und seine Bürger qualvoll hinrichtete, wollte Möros den Tyrannen töten. Die Trabanten ergriffen ihn und führten den Bewaffneten zum König. Im Verhör antwortete er, er habe den König töten wollen. Dieser befahl ihn, ans Kreuz zu schlagen. Möros bat um einen dreitägigen Urlaub zur Verheiratung seiner Schwester.

Er wolle dem Tyrann seinen Freund und Genossen Selinuntius überliefern, der dafür bürgen werde, dass er am dritten Tage zurückkehre. Der König gewährte ihm den Urlaub zur Verehelichung seiner Schwester und erklärte dem Selinuntius, wenn Möros nicht an dem Tage sich einstelle, so müsse er die Strafe erleiden, doch Möros wäre frei.

Als dieser nun die Schwester verehelicht hatte und auf dem Rückweg war, schwoll plötzlich der Strom durch Sturm und Regen so an, daß man weder zu Fuß noch schwimmend hinüber konnte. Möros setzte sich ans Ufer und begann zu weinen, daß sein Freund für ihn sterben solle. Der Tyrann aber befahl, den Selinuntius ans Kreuz zu schlagen, weil schon sechs Stunden des dritten Tages vorüber waren und Möros nicht erschien. Selinuntius entgegnete, der Tag sei noch nicht vorbei. Als nun schon neun Stunden verflossen waren, befahl der König, den Selinuntius zum Kreuz zu führen. Während er hingeführt wurde, erst da holte Möros den Henker ein, nachdem er glücklich über den Fluss gekommen war, und rief aus der Ferne, »Halt, Henker, da bin ich, für den er gebürget!« Die Begebenheit wurde dem König gemeldet. Dieser ließ die beiden Freunde vor sich führen, bat um Aufnahme in ihre Freundschaft und schenkte dem Möros das Leben.

— Am 27.08.1798 notierte Schiller in seinem Kalender »Bürgschaft angefangen« und am 30.08. »Bürgschaft fertig«. Wir hören sie nun in der Form aus letzter Hand, in welcher der Name des Freundes nicht mehr Möros, sondern Damon ist.

Friedrich Schiller

»Die Bürgschaft«

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Möros, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
»Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!«
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
»Die Stadt vom Tyrannen befreien!«
»Das sollst du am Kreuze bereuen.«

Lithografieserie von J. Trentsensky, Blatt No 1. “Die Stadt vom Tyrannen befreyen!” “Das sollst du am Kreutze bereuen.”

»Ich bin«, spricht jener, »zu sterben bereit
Und bitte nicht um mein Leben,
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit,
Ich lasse den Freund dir als Bürgen,
Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.«

Da lächelt der König mit arger List
Und spricht nach kurzem Bedenken:
»Drei Tage will ich dir schenken.
Doch wisse! Wenn sie verstrichen, die Frist,
Eh du zurück mir gegeben bist,
So muß er statt deiner erblassen,
Doch dir ist die Strafe erlassen.«

Und er kommt zum Freunde: »Der König gebeut,
Daß ich am Kreuz mit dem Leben
Bezahle das frevelnde Streben,
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit,
So bleib du dem König zum Pfande,
Bis ich komme, zu lösen die Bande.«

Und schweigend umarmt ihn der treue Freund
Und liefert sich aus dem Tyrannen,
Der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint,
Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.

Da gießt unendlicher Regen herab,
von den Bergen stürzen die Quellen
und die Bäche, die Ströme schwellen,
und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab,
da reißet die Brücke der Strudel hinab
und donnernd sprengen die Wogen
des Gewölbes krachenden Bogen.

Und trostlos irrt er an Ufers Rand,
Wie weit er auch spähet und blicket
Und die Stimme, die rufende, schicket,
Da stößet kein Nachen vom sichern Strand,
Der ihn setze an das gewünschte Land,
Kein Schiffer lenket die Fähre,
Und der wilde Strom wird zum Meere.

Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
Die Hände zum Zeus erhoben:
»O hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
Die Sonne, und wenn sie niedergeht
Und ich kann die Stadt nicht erreichen,
So muß der Freund mir erbleichen.«

»O hemme des Stromes Toben! Es eilen die Stunden, im Mittag steht die Sonne, und wenn sie niedergeht und ich kann die Stadt nicht erreichen, so muß der Freund mir erbleichen.«

Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut,
Und Welle auf Welle zerrinnet,
Und Stunde an Stunde entrinnet.
Da treibt ihn die Angst, da faßt er sich Mut
Und wirft sich hinein in die brausende Flut
Und teilt mit gewaltigen Armen
Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.

Und gewinnt das Ufer und eilet fort
Und danket dem rettenden Gotte,
Da stürzet die raubende Rotte
Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
Den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord
Und hemmet des Wanderers Eile
Mit drohend geschwungener Keule.

»Was wollt ihr?« ruft er, für Schrecken bleich,
»Ich habe nichts als mein Leben,
Das muß ich dem Könige geben!«
Und entreißt die Keule dem nächsten gleich:
»Um des Freundes willen erbarmet euch!«
Und drei mit gewaltigen Streichen
Erlegt er, die andern entweichen.

Und drei mit gewaltigen Streichen erlegt er, die andern entweichen.

Und die Sonne versendet glühenden Brand,
Und von der unendlichen Mühe
Ermattet sinken die Kniee.
»O hast du mich gnädig aus Räubershand,
Aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,
Und soll hier verschmachtend verderben,
Und der Freund mir, der liebende, sterben!«

Und horch! da sprudelt es silberhell,
Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen,
Und stille hält er, zu lauschen,
Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell,
Springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell,
Und freudig bückt er sich nieder
Und erfrischet die brennenden Glieder.

Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün
Und malt auf den glänzenden Matten
Der Bäume gigantische Schatten;
Und zwei Wanderer sieht er die Straße ziehn,
Will eilenden Laufes vorüberfliehn,
Da hört er die Worte sie sagen:
»Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen.«

Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
Ihn jagen der Sorge Qualen,
Da schimmern in Abendrots Strahlen
Von ferne die Zinnen von Syrakus,
Und entgegen kommt ihm Philostratus,
Des Hauses redlicher Hüter,
Der erkennet entsetzt den Gebieter:

»Zurück! du rettest den Freund nicht mehr,
So rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet‘ er
Mit hoffender Seele der Wiederkehr,
Ihm konnte den mutigen Glauben
Der Hohn des Tyrannen nicht rauben.«

»Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht
Ein Retter willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blutge Tyrann sich nicht,
Daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht,
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue.«

»Des rühme der blutge Tyrann sich nicht, daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht. Er schlachte der Opfer zweie und glaube an Liebe und Treue.«

Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor
Und sieht das Kreuz schon erhöhet,
Das die Menge gaffend umstehet,
An dem Seile schon zieht man den Freund empor,
Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
»Mich, Henker!« ruft er, »erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!«

»Mich, Henker!« ruft er, »erwürget! Da bin ich, für den er gebürget!«

Und Erstaunen ergreifet das Volk umher,
In den Armen liegen sich beide
Und weinen für Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
Und zum Könige bringt man die Wundermär,
Der fühlt ein menschliches Rühren,
Läßt schnell vor den Thron sie führen.

Und blicket sie lange verwundert an.
Drauf spricht er: »Es ist euch gelungen,
Ihr habt das Herz mir bezwungen,
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn,
So nehmet auch mich zum Genossen an,
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der Dritte.«

»Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte«

Wenn ich mir vorstelle, dass dieses Gedicht tatsächlich den Freundschaftsdienst beschreibt, den der große Denker und Staatskünstler Platon in einer welthistorisch entscheidenden Situation seinem Freund Dion leistete, und diese über 2000 Jahre, bevor Schiller das Gedicht schrieb, dann bekommt man große Ehrfurcht vor diesem schönen Gedicht. Wie kann das möglich sein? Schiller hat doch all diese Überlieferungen und Tatsachen gar nicht gewusst! Oder vielleicht doch?

— Schiller war ein Genie. Selbst wenn wir durch seine Briefe und durch andere Nachforschungen mehr Details über ihn erfahren, werden wir wahrscheinlich seinen Gedankengang nie ergründen. Aber ich bin davon überzeugt, dass klassische Poeten, auch wenn sie nicht alle Einzelheiten kennen, “einen Draht haben” für die wesentlichen Zusammenhänge der Weltgeschichte und den darin wirkenden Schöpfergeist der Menschen, ganz besonders Schiller.

“Und schließlich zeigte sich ja auch dann...
Am Ende war der Tyrann gar kein Tyrann.”

Was soll denn das? Das sind doch die Schlusszeilen aus Brechts merkwürdigem Gedicht über Schillers Bürgschaft.

“Es wird also die Menschheit, so erkläre ich, nicht eher von ihren Leiden erlöst werden, bis entweder die berufsmäßigen Vertreter der echten und wahren Philosophie zur Herrschaft im Staate gelangen oder bis die Inhaber der Regierungsgewalt in den Staaten infolge einer göttlichen Fügung sich zur ernstlichen Beschäftigung mit der echten Philosophie entschließen.”

Und das ist die Stelle aus Platons siebten Brief, an der er sagt, dass der Staat von einem Philosophenkönig regiert werden muss. Was soll das bedeuten?

— Lass uns kurz darüber nachdenken. Hat Brecht denn recht, wenn er sagt, am Ende des Gedichts stelle sich heraus, dass der Tyrann gar kein Tyrann war?

Ganz und gar nicht. Er war und ist sehr wohl ein Tyrann. Entscheidend ist jedoch, dass der Tyrann sich durch das Verhalten der Freunde ändert. Schiller sagt ganz eindeutig, er ist “als Mensch gerührt” und erkennt plötzlich, dass es “Treue” wirklich gibt, dass die Treue “kein leerer Wahn” ist. Sogar der Tyrann wird Mensch. Das ist die größte und beste Revolution, die man sich vorstellen kann.

— Und das passt genau zu Platon. Er sagt doch nichts anderes, als dass der Staat sich nur dann bessert, wenn er durch Philosophen regiert wird oder die Herrschenden zu Philosophen werden. Denn Tyrannen einfach zu beseitigen, ist keine Lösung. Und wie ist es in Schillers Gedicht?

Damon versucht, den Tyrannen zu ermorden. Das misslingt. Aber dann bewirkt die Liebe zu seinem Freund, dass der Tyrann sich verändert und er am Ende als Mensch vor uns steht, der auch einer der Freunde sein möchte.

Aus der Autobiografie von Friedrich Wilhelm von Hoven,

Ludwigsburg 1793-94

Von dem französischen Freiheitswesen, für welches ich mich so sehr interessierte, war Friedrich Schiller kein Freund. Die schönen Ansichten in eine glückliche Zukunft fand er nicht. Er hielt die Französische Revolution lediglich für die natürliche Folge der schlechten französischen Regierung, der Üppigkeit des Hofes und der Großen, der Demoralisation des französischen Volkes und für das Werk unzufriedener, ehrgeiziger und leidenschaftlicher Menschen, welche die Lage der Dinge zur Errichtung ihrer egoistischen Zwecke benutzten. Nicht für ein Werk der Weisheit. Er gab zwar zu, dass viele wahre und große Ideen, welche sich zuvor nur in Büchern und in den Köpfen helldenkender Menschen befunden, zur öffentlichen Sprache gekommen. Aber um eine wahrhaft beglückende Verfassung einzuführen, sei das bei weitem nicht genug. Erstlich seien die Prinzipien selbst, die einer solchen Verfassung zugrunde gelegt werden müssten, noch keineswegs hinlänglich entwickelt. Und zweitens, was die Hauptsache sei, müsse auch das Volk für eine solche Verfassung reif sein. Und dazu fehle noch sehr viel, ja, alles. Daher sei er fest überzeugt. Die französische Republik werde ebenso schnell wieder aufhören, als sie entstanden sei. Die republikanische Verfassung werde früher oder später in Anarchie übergehen und das einzige Heil der Nation werde sein, dass ein kräftiger Mann erschiene — er möge herkommen, wo er wolle — der den Sturm beschwöre, wieder Ordnung einführe und den Zügel der Regierung fest in der Hand halte. Auch wenn er sich zum uneingeschränkten Herrn nicht nur von Frankreich, sondern auch von einem Teil von dem übrigen Europa machen sollte.

— Napoleon, der dieser “kräftige Mann” werden sollte, war 1794 noch ein Nichts. Schiller erkannte, dass den freien Staat kein Dolch und keine Guillotine hervorbringen können. Das Volk muss reif sein für den freien Staat.

Aber wie wird es das? Was sagt denn Schiller dazu?

Aus Schillers Briefen “über die ästhetische Erziehung des Menschen”.

Alle Verbesserungen im Politischen soll von Veredelung des Charakters ausgehen. Aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? Man müsste also zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergibt, und Quellen dazu eröffnen, die sich bei aller politischen Verderbnis rein und lauter erhalten. Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst.

(…) Gib also der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten. So wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen. Diese Richtung hast du ihr gegeben, wenn du, lehrend, ihre Gedanken zum Notwendigen und Ewigen erhebst, und wenn du, handelnd oder bildend, das Notwendige und Ewige in einen Gegenstand ihrer Triebe verwandelst.

(…) Fallen wird das Gebäude des Wahns und der Willkürlichkeit, fallen muss es, es ist schon gefallen, sobald du gewiss bist, dass es sich neigt. Aber in dem Inneren, nicht bloß in dem Äußeren Menschen, muss es sich neigen.

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Genau wie Platon will Schiller den Staat revolutionieren und genau wie Platon erkennt Schiller, dass dies nicht durch einen Gewaltakt möglich ist, sondern nur durch eine Revolution in den Herzen und Köpfen der Menschen. Der freie Staat ist nur möglich, wenn die Bürger selbst zu Staatsbürgern werden, die frei für den Staat denken und handeln.

— Das ist der entscheidende Punkt. Wir hörten, wie Platon Dions Mördern sagt, dass sie unbedingt dessen Politik fortsetzen müssen, denn das Wohl der Menschheit hinge davon ab, den Staat der Philosophenkönige zu schaffen. Und Schiller schreibt seine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen nach dem Scheitern der Französischen Revolution, um zu erklären, wie die innere Revolution in den Menschen hin zum freien Staatsbürger vonstatten gehen kann. In dem Gedicht »Die Bürgschaft« drückt Schiller den Kerngedanken der ästhetischen Briefe aus. Es ist übrigens auch der Kerngedanke von Platons “Politea”, denn auch dort geht es darum, wie Staatsbürger erzogen werden können, die Garanten des freien Staates sind. Schiller geht über Platon hinaus, indem er erkennt, dass die “Charakterbildung”, welche für die politische Verwirklichung des freien Staates notwendig ist, durch die schöne Kunst geleistet werden kann. Eine Aufgabe, der sich heute leider viele, die sich Künstler nennen, entziehen.

Wenn Platon Schiller leibhaftig begegnet wäre, dann hätte er ihn bestimmt genauso zum Freund gewonnen wie seinerzeit den 20 Jahre jungen Dion in Syrakus. Genau wie Dion lebte Schiller ja für die Idee, alle Menschen “müssten sich der staatlichen Freiheit und einer Verfassung auf Grundlage der besten Gesetze erfreuen”. Deswegen war Schiller ja der “Dichter der Freiheit.”

— Vermutlich war es das, was Schiller die Bedeutung der Geschichte der Bürgschaft erahnen ließ und sie für ihn so interessant machte. Es ist die gemeinsame Idee des freien Staates und des wahren Staatsbürgers oder Philosophenkönigs.

“Die Bürgschaft” sagt uns, der Freie Staat wird nicht mit dem Dolch im Gewande geschaffen, sondern durch edles Handeln und durch die schöne Kunst. Wir dürfen nämlich nicht das Offensichtliche vergessen. “Die Bürgschaft” wurde von Schiller für uns als Gedicht geschrieben. Oder, wie man allgemeiner sagen kann, als “Gesang”.

Friedrich Schiller

Die Macht des Gesanges

Ein Regenstrom aus Felsenrissen,
Er kommt mit Donners Ungestüm,
Bergtrümmer folgen seinen Güssen,
Und Eichen stürzen unter ihm;
Erstaunt, mit wollustvollem Grausen,
Hört ihn der Wanderer und lauscht,
Er hört die Flut vom Felsen brausen,
Doch weiß er nicht, woher sie rauscht:
So strömen des Gesanges Wellen
Hervor aus nie entdeckten Quellen.

Verbündet mit den furchtbarn Wesen,
Die still des Lebens Faden drehn,
Wer kann des Sängers Zauber lösen,
Wer seinen Tönen widerstehn?
Wie mit dem Stab des Götterboten
Beherrscht er das bewegte Herz,
Er taucht es in das Reich der Toten,
Er hebt es staunend himmelwärts
Und wiegt es zwischen Ernst und Spiele
Auf schwanker Leiter der Gefühle.

Wie wenn auf einmal in die Kreise
Der Freude, mit Gigantenschritt,
Geheimnisvoll nach Geisterweise
Ein ungeheures Schicksal tritt.
Da beugt sich jede Erdengröße
Dem Fremdling aus der andern Welt,
Des Jubels nichtiges Getöse
Verstummt, und jede Larve fällt,
Und vor der Wahrheit mächtgem Siege
Verschwindet jedes Werk der Lüge.

So rafft von jeder eiteln Bürde,
Wenn des Gesanges Ruf erschallt,
Der Mensch sich auf zur Geisterwürde
Und tritt in heilige Gewalt;
Den hohen Göttern ist er eigen,
Ihm darf nichts Irdisches sich nahn,
Und jede andre Macht muß schweigen,
Und kein Verhängnis fällt ihn an,
Es schwinden jedes Kummers Falten,
Solang des Liedes Zauber walten.

Und wie nach hoffnungslosem Sehnen,
Nach langer Trennung bitterm Schmerz,
Ein Kind mit heißen Reuetränen
Sich stürzt an seiner Mutter Herz,
So führt zu seiner Jugend Hütten,
Zu seiner Unschuld reinem Glück,
Vom fernen Ausland fremder Sitten
Den Flüchtling der Gesang zurück,
In der Natur getreuen Armen
Von kalten Regeln zu erwarmen.


Soweit also das Programm Die Bürgschaft des Freundes von den “Dichterpflänzchen” unter Mitwirkung von Herrn Ralf Schauerhammer, Herrn Lutz Schauerhammer und von Siggi Ober-Grefenkämper und mir, Uwe Alschner, als Sprecher dieses schönen Programms. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen!

Wir möchten Sie nicht verabschieden, ohne Ihnen nicht auch die Bürgschaft in ihrer gesamten Länge als Vertonung von Franz Schubert zu präsentieren. Dabei handelt es sich um das Werk Nummer D 246, “Die Bürgschaft” von Franz Schubert. Und Sie hören nun eine Aufnahme von Dietrich Fischer-Dieskau. Herr Fischer-Dieskau ist ein ganz bekannter Bariton gewesen, der sich unter anderem ebenfalls für die wissenschaftliche Stimmung von C, also von dem Kammerton C, in der Höhe 256 Hertz eingesetzt hat, insofern also auch gegen eine immer weiter ansteigende Stimmung dieses Tones, was nicht nur die Sänger sehr stark beansprucht und ihre Stimme vorzeitig schädigt, sondern auch den Zugang zu klassischer Musik, zu den Harmonien und zu den Dynamiken in klassischen Kompositionen unmöglich macht. Und das ist der Grund, weshalb die Stimmung in Höhe von C 256 Hertz tatsächlich die ursprünglich auch von Johann Sebastian Bach letztendlich in seinem wohltemperierten Klavier angeschlagene Stimmung, beziehungsweise angepeilte Stimmung war, ohne dass Herr Bach damals natürlich die Frequenzthematik in dieser Form kannte. Aber er hatte ein sehr feines Gehör und hat ganz automatisch und ganz natürlich seine Kompositionen so eingestellt, dass sie in dieser natürlichen, organischen, wissenschaftlichen Stimmung schwingen und da ihre volle Pracht entfalten. Hören wir also nun die Bürgschaft von Franz Schubert.

Und das war sie, die vierte Ausgabe von Radio IBYKUS hier auf OS-Radio 104,8. Wir präsentierten Ihnen heute den zweiten Teil des Programms “Die Bürgschaft des Freundes” in einer Fassung der Dichterpflänzchen, des Vereins “Dichterpflänzchen e.V.”. Vortragende waren Ralf Schauerhammer, Lutz Schauerhammer, Sigi Ober-Grefenkämper und ich, Uwe Alschner. Siggi Ober-Grefenkämper und Uwe Alschner waren auch sendeverantwortlich für diese Sendung.

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Wir danken den Kolleginnen und Kollegen von OS Radio 104,8 für die Bereitstellung des Sendeplatzes im Rahmen der Richtlinien des Niedersächsischen Landesmediengesetzes. Wir danken ganz besonders Frank Paul, unserem Kollegen, für die Zusammenstellung und den Schnitt dieser Sendung. Unsere nächste Sendung kommt wieder am 1. Mai 2025. Das ist dieses Jahr also ein Donnerstag. Und da werden wir um 18.03 Uhr nach den Nachrichten hier wieder mit der fünften Ausgabe von Radio IBYKUS zu hören sein. Insofern danken wir Ihnen für Ihr Interesse! Bleiben Sie gesund und bleiben Sie auch der Klassik verbunden!

Bis bald, Ihre Uwe Alschner und Siggi Ober-Grefenkämper.

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