Künstliche Intelligenz – Transhumanismus versus Transzendenz
Gastbeitrag von Ralf Schauerhammer
Das Thema Transhumanismus und seine Wurzeln ist auf diesen Seiten bereits mehrfach direkt oder indirekt behandelt worden, u.a. durch die Übersetzung des Beitrags von
über H.G. Wells und Yuval Harari.Nachfolgend erscheint heute ein weiter Gastbeitrag von Ralf Schauerhammer, der sich mit der Frage Transhumanismus vs. Transzendenz beschäftigt. Und damit mit der Kernfrage: “Was bedeutet es, ganz Mensch zu sein?”
Künstliche Intelligenz – Transhumanismus versus Transzendenz
Von Ralf Schauerhammer
Was man heute mit “Künstlicher Intelligenz” bezeichnet, wird in den kommenden Jahrzehnten eine gewaltige Veränderung in der Arbeitswelt und Gesellschaft mit sich bringen, noch stärker, als die Entwicklung der Computer in den vergangenen Jahrzehnten dies getan hat.

Ich selbst habe noch riesige Rechenmaschinen, die jedoch nur einen Bruchteil der Leistung eines heutigen Taschenrechners hatten, über Lochstreifen mit Programmen in Maschinensprache und Assembler “gefüttert”. Mein ganzes Leben hatte ich Freude an der rasanten Entwicklung der digitalen Technik, sowie deren Programmierung und Anwendung. Trotzdem scheint mir allgemein überschätzt zu werden, was diese Technik leisten kann, insbesondere bezüglich der “Künstlichen Intelligenz”.
So ist zum Beispiel nach Elon Musks eigenem Bekunden das ultimative Ziel seines Unternehmens, durch Gehirnimplantate eine Symbiose des Menschen mit Künstlicher Intelligenz zu erreichen und dadurch den Menschen mit der KI zu verschmelzen. Das sei notwendig, weil die Maschinen bald “superintelligent” wären und den Menschen hinter sich “zurückgelassen” würden.
Derartige Überschätzungen liegen einerseits an einem unklaren Begriff des Menschen und seiner schöpferischen Intelligenz; andererseits an dem Mythos der Kybernetik, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entstand, in dessen Erzählungen von Cyborgs und schwarmintelligenten Computernetzwerken der alte Menschheitstraum des Homunkulus auflebt und Erzählstoff für eine scheinbare Unsterblichkeit des perfektionierten Menschen liefert. Dieser Mythos kristallisiert sich heute in der Ideologie des “Transhumanismus”, einer technisierten Form der Eugenik, welche unter Missbrauch des Begriffs “Humanismus” den Menschen ent-menschlicht. Unter einem Cyborg wird nämlich nicht verstanden, dass menschliche Defekte durch Prothesen (eine Hinzufügung) behoben werden, sondern dass durch die Verquickung von Mensch und Maschine, nunmehr mittels Künstlicher Intelligenz, ein transhumanes (über den Menschen hinausgehendes) Wesen erzeugt wird, ein Übermensch - genau wie das Herr Musk anstrebt.1
Worin die Unsterblichkeit des veränderlichen Menschen, im Unterschied zu den unveränderlichen (transhumanistischen) Göttern, wirklich liegt, beschrieb Platon schon vor etwa 2800 Jahren in seinem “Symposium” auf wunderschöne Weise. Durch das, was Platon dort schreibt, erklärt sich übrigens auch die Bedeutung der Liebe (Eros) für Leben und Sterben des Menschen. Liebe ist nämlich etwas, das es in der KI nicht gibt, das wie alle Seelentätigkeit jenseits der KI liegt, vielleicht von KI imitiert werden kann, oder in sie hineinprojiziert werden kann, aber nicht in ihr existiert. Denn wie das mythische Denken der Vergangenheit alle Dinge als von Göttern und Geistern belebt sah, so erzeugt der Mythos der Kybernetik die Vorstellung von belebten und geisterfüllten Maschinen, welche letztendlich, genau wie die antiken Götter, den Menschen als Macht überlegen sind und im Gegensatz zum Menschen unsterblich sind.
Der Tod ist, wie die Geburt und auch die Liebe, für alle Lebewesen Teil des Lebens. Jedenfalls aller, die sich nicht wie Einzeller durch Zellteilung vermehren, und dadurch in gewisser Weise noch in allen “Nachkommen” vorhanden sind. Wenn man den individuellen Tod aufheben will, muss auch Geburt und Liebe, zugunsten einer Senilitätsgesellschaft unsterblicher Mensch-Maschine-Wesen enden. Wird damit nicht auch alle Geschichte enden, in einem ewiggleichen Dasein – eine Art kollektivem Dorian Gray?
Doch lesen wir, was Sokrates im ‘Gastmahl’ von der weisen Diotima berichtet. Bezüglich der Frage nach der Ursache der Liebe sagt sie:
“[Es] sucht hier die sterbliche Natur nach Vermögen immer zu sein und unsterblich. Sie vermag es aber nur auf diese Art durch die Erzeugung, dass immer ein anderes Junges statt des Alten zurückbleibt. Denn auch von jedem einzelnen Lebenden sagt man ja dass es lebe und dasselbe sei, wie einer von Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird wenn er auch ein Greis geworden ist: und heißt doch immer derselbe ohnerachtet er nie dasselbe an sich behält, sondern immer ein neuer wird und altes verliert an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und dem ganzen Leibe; und nicht nur an dem Leibe allein sondern auch an der Seele, die Gewöhnungen, Sitten, Meinungen Begierden Lust Unlust Furcht, hiervon behält nie jeder dasselbe an sich, sondern eins entsteht und das andere vergeht. Und viel wunderlicher noch als dieses ist, dass auch die Erkenntnisse nicht nur teils entstehen teils vergehen, und wir nie dieselbigen sind in Bezug auf die Erkenntnisse, sondern dass auch jeder einzelnen Erkenntnis dasselbe begegnet. Denn was man Nachsinnen heißt, geht auf eine ausgegangene Erkenntnis. Vergessen nämlich ist das Ausgehen einer Erkenntnis, Nachsinnen aber bildet statt der abgegangenen eine neue Erinnerung ein, und erhält so die Erkenntnis, dass sie scheint dieselbige zu sein. Und auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so dass es durchaus immer dasselbige wäre wie das göttliche, sondern indem das abgehende und veraltende ein anderes neues solches zurücklässt wie es selbst war. Durch diese Veranstaltung o Sokrates, sagte sie, hat alles Sterbliche Teil an der Unsterblichkeit, der Leib sowohl als alles Übrige.”
Dieser schöne Text vermittelt, die einfache Wahrheit, dass Vergängliches nur durch seine ständige Neuschöpfung fortbestehen kann. Und genau das ist es, wozu Maschinen, so künstlich intelligent sie auch sein mögen, niemals in der Lage sein werden, zur Neuschöpfung. Insbesondere nicht zur Neuschöpfung ihrer selbst, d.h. sie können keine Kinder bekommen. Vielleicht können sie “Neues” machen, wenn der Zufall es so will, aber nichts im real existierenden Kosmos schöpferisch neues, das bleibt allein dem Menschen vorbehalten. Wenn das nicht erkannt wird so liegt das an der materialistischen Überschätzung der KI, bzw. einer Unter- und Fehleinschätzung des menschlichen Denken und Fühlens.
Ich persönlich glaube, dass die Wurzeln dieser Über-/Unterschätzung bis zu René Descartes berühmtem “cogito ergo sum” und der damit verbundenen Überbetonung der Bedeutung des reinen Denkens für das Sein, zurückreichen. Deshalb besteht meiner Meinung nach ein erster Ansatz zur Korrektur dieser Fehleinschätzung darin, die Bedeutung der Leiblichkeit für die Existenz des Menschen zu erkennen, wie es z.B. Thomas Fuchs in seiner “Verteidigung der Menschen” tut.
Er schreibt: “Der eigentliche Gegenentwurf zu einem naturalistisch-reduktiven Bild des Menschen besteht nämlich, so meinen These, in der für die Person konstitutiven Leiblichkeit und Lebendigkeit. Nicht die abstrakte Innerlichkeit, körperloses Bewusstsein oder reiner Geist sind die Leitideen einer humanistischen Sicht des Menschen, sondern seine konkrete leibliche Existenz. Nur wenn sich zeigen lässt, dass die Person in ihrem Leib selbst gegenwärtig ist, dass sie mit ihrem ganzen Leib fühlt, wahrnimmt, sich ausdrückt und handelt, entgeht sie der Einschließung in einen verborgenen Innenraum des Bewusstseins, in eine unzugängliche Zitadelle, aus der nur Signale an die Außenwelt dringen, die sich von den Signalen einer künstlichen Intelligenz grundsätzliche nicht mehr unterscheiden lassen. Und nur wenn die Person über eine verkörperte Freiheit verfügt, sich also im Entscheiden und Handeln als Organismus selbst bestimmt, wird Subjektivität mehr als ein Epiphänomen, nämlich in der Welt real wirksam.”2
Damit trifft Thomas Fuchs einen wesentlichen Punkt, der meiner Meinung nach jedoch vertieft werden muss. Fuchs hat ganz Recht, wenn er das Wesen des freien Menschen im “im Entscheiden und Handeln als Organismus” sieht, es kommt jedoch auch darauf an, dass dieses Entscheiden und Handeln vom Gewissen geleitet wird. Denn man könnte Fuchs entgegenhalten, Killer-Roboter z.B. entscheiden und Handeln ja auch autonom. Ja, aber nicht wirklich und vor allem nicht menschlich (obwohl Menschen bisweilen auch töten) vom Gewissen geleitet, oder gegen das Gewissen handelnd.
Um die Frage zu erörtern, warum das Gewissen für die Beurteilung der KI so wesentlich ist, möchte ich ein Zitat des Dichters Christian Friedrich Hebbel anführen. Er schrieb in einem Brief vom 13.5.1857 an Friedrich von Uechtritz: “Das Gewissen steht mit sämtlichen Zwecken, die sich auf dem Standpunkt des Materialismus für den Menschen ergeben, im schneidenden Widerspruch, und wenn man auch versuchen mag, ihm den Geschlechtserhaltungstrieb im Sinn eines Regulators und Korrektivs des Individuellen zugrunde zu legen, was gewiss früher oder später geschieht, falls es noch nicht geschehen sein sollte, so wird man es dadurch so wenig erklären als aufheben”.
Dieses Zitat fand ich in dem Buch “Der unbewusste Gott” von Viktor E. Frankl. Frankl fährt nach dem Hebbel-Zitat unmittelbar fort: “Nun, was Hebbel hier prophezeit hat, ist inzwischen tatsächlich geschehen, und zwar war es die Psychoanalyse, die den Versuch unternommen hat, das Gewissen aus der Triebhaftigkeit zu erklären, auf sie zurückzuführen: die Psychoanalyse nennt das Gewissen Über-Ich, und dieses Über-Ich leitet sie ab von der Introjektion der Vater-Imago.”3
Wie auch Fuchs stellte Frankl die Frage: Was ist eigentlich Menschsein? Und er findet als Antwort: “Denn das eigentliche Menschsein ist… Verantwortlich sein: Es ist existentielles Sein.”
Der Mensch kann sehr wohl ‘eigentlich’ sein, auch wo er unbewusst ist; aber er ist andererseits nur dort ‘eigentlich’, wo er nicht getrieben, sondern verantwortlich ist. Eigentliches Menschsein fängt also überhaupt erst dort an, wo kein Getrieben-sein mehr vorliegt; um dort aufzuhören, wo das Verantwortlich-sein aufhört. Eigentliches Menschsein ist also erst dann gegeben, wo nicht ein Es den Menschen treibt, sondern wo ein Ich sich entscheidet.”4
Der Mensch ist jedoch nicht völlig isoliert zu seinem freien “Wozu” fähig, sondern nur als transzendentes Wesen, welches, so führt Frankl bildlich aus, wie der Nabel beim Menschen auf eine frühere Existenz im Mutterleib, so in der Psyche über das Gewissen auf ein transzendentes Sein hinweist. Lesen wir dazu die folgende schöne Stelle seines Buches: “Sollte also die Sprache irren, wo sie von einer Stimme des Gewissens spricht? Denn das Gewissen könnte ja schon darum nicht ‘Stimme haben’, weil es ja selber Stimme ‘ist’ – Stimme der Transzendenz. Diese Stimme hört der Mensch nur ab – aber sie stammt nicht vom Menschen ab; im Gegenteil: erst der transzendente Charakter des Gewissens lässt uns den Menschen und lässt uns im Besonderen seine Personalität überhaupt erst in einem tieferen Sinn verstehen. Der Ausdruck ‘Person’ würde in diesem Lichte nämlich eine neue Bedeutung gewinnen; denn wir könnten jetzt sagen: Durch das Gewissen der menschlichen Person per-sonat eine außermenschliche Instanz. Welche Instanz das sei, können wir von hier aus, allein im Zusammenhang mit der Ursprungsproblematik des Gewissens beziehungsweise mit dessen transzendenter Verwurzelung, nicht erschließen; sehr wohl aber lässt sich zumindest das eine behaupten: dass auch diese außermenschliche Instanz ihrerseits notwendig von personaler Seinsart sein muss – wobei sich von diesem ontologischen Schluss dann freilich auch zurückschließen lassen müsste auf das, was man die Ebenbildlichkeit der menschlichen Person nennt.”5
Frankls Buch enthält darüber hinaus noch viel Lesens- und Bedenkenswertes, das bereits gesagte sollte jedoch deutlich genug machen, welche arge Reduktion des menschlichen Wesens und seines Denkens und Fühlens notwendig ist, um dieses mit den Erzeugnissen der KI gleichsetzen zu können.
Wirklich schöpferisch Neues braucht ebenfalls etwas von dem, was Frankl mit dem Begriff der “Ebenbildlichkeit” anspricht, was mehr ist, als nur über Erlernbares hinauszugehen, d.h. das Erlernbare transzendiert. Das ist etwas, was die KI nicht kann. Sie kann bisweilen überraschende Ergebnisse, oft aber auch triviale und falsche hervorbringen, aber keine “ebenbildlich”-schöpferischen. Das ist so, weil die KI im Grunde nur imitieren und nach dem “Gossip-Prinzip” funktioniert, wie ich gerne sage. Die heute so sehr “gehypten” KI-Programme beruhen doch einfach nur auf der Nutzung der Technik neuronaler Netze, mit denen es möglich wurde, eine einfache Art der Programmierung durch “Anlernen” durchzuführen, was auch von billigen “Croudworkern”, in Gefängnissen oder in unterentwickelten Ländern, getan werden kann. Die Unvollkommenheiten dieser Methode werden zwar werbewirksam als “Kreativität” der künstlichen Intelligenz vermarktet, sie werden sich jedoch recht bald als Beschränkung und Grenze bemerkbar machen, einer Grenze, die weit unter dem liegt, wozu die Schöpferkraft des transzendenten Wesens Mensch in der Lage ist.6 Der Mensch kann und wird, wie bisher, die Welt verbessern, und zwar mit Hilfe von Technik und Maschinen, in Zukunft vor allem mit KI-Maschinen. Den Menschen selbst jedoch, können, sollen und werden die KI-Maschinen nicht “transhuman” verbessern, denn der Mensch ist ein transzendentes Wesen.
Über den Autor
RALF SCHAUERHAMMER, JAHRGANG 1949 war beruflich als IT-Spezialist in Unternehmensberatungen und als selbstständiger Berater tätig und ist seit Mitte 2016 im Ruhestand. Seit er denken kann liebt er Poesie und verfasste eigene Gedichte, welche er mittlerweile in verschiedenen Poesieforen und Gedichtbänden veröffentlicht hat. Er sagt, ihm gehe es so, wie dem Sprachforscher und Dichter Friedrich Rückert, welcher schrieb: "Ich denke nie ohne zu dichten, und dichte nie ohne zu denken". In dem 2018 erschienenen Gedichtband "Flügelpferdchens Federlesen" (Lyrikbibliothek Band 124 Engelsdorfer Verlag) findet der Leser folglich eine Auswahl an Gedichten, vom strengen Sonett bis zur freien Lyrik, mal lustig, mal nachdenklich und mit erkennbarer Freude an Sprache und Philosophie.
Vor 30 Jahren gründete Ralf Schauerhammer mit einigen anderen Freunden der Poesie den Verein "Dichterpflänzchen e.V." Das Motto des Vereins ist einem Gedicht von Friedrich Rückert entliehen und lautet "Weltpoesie allein ist Weltversöhnung". Die Dichterpflänzchen (www.dichterpflaenzchen.com/) versuchen, den Dialog der großen Dichter der verschiedensten Kulturen, welche diese über Raum und Zeit miteinander gepflegt haben, aufzuspüren und zu vermitteln. Da in allen Kulturen schöpferisches Wirken das Beste der Menschen zum Vorschein bringt, bietet die klassische Poesie eine einzigartige Möglichkeit, andere Menschen und Kulturen zu entdecken, zu respektieren und lieb zu gewinnen.
Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autoren. Er ist entnommen dem Band "Spiritualität, Meditation und Yoga in Literatur, Heilkunst und Algorithmus”, herausgegeben von Arun Banerjee.
Fußnoten
Eine sehr gute und umfassende Geschichte des Kybernetik-Mythos liefert das Buch “Rise of the Machines / the lost history of cybernetics” von Thomas Rid.
Einen Beweis dafür, dass Maschinen menschliche Intelligenz prinzipiell nicht übertreffen können, also nicht in der von Musk behaupteten Weise “superintelligent” sind, wird in dem Buch “Why Machine Will Never Rule the World” von Jobs Landgrebe und Barry Smith geführt, und zwar ausgehend von der plausiblen Voraussetzung, dass das menschliche Gehirn ein "Komplexes System" ist.
“Verteidigung der Menschen” von Thomas Fuchs, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2311, 1. Auflage, 2020. Hervorhebungen im Original]
“Der unbewusste Gott” von Viktor E. Frankl. 7. Kösel-Ausgabe, Seite 43.
“Der unbewusste Gott” von Viktor E. Frankl. 7. Kösel-Ausgabe, Seite 26f.
“Der unbewusste Gott” von Viktor E. Frankl. 7. Kösel-Ausgabe, Seite 40. Der benutzte lateinische Begriff “per-sonat” bedeutet “hindurchklingen”.
In seiner Dankesrede “Der ‘High-Tech-Friede’ braucht eine neue Art von Humanismus”, vom 12.10.2014 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, brachte Jaron Lanier die Sache so auf den Punkt:
"Wir müssen uns überlegen, ob Fantasien von maschineller Gnade lohnenswert sind. Denn wenn wir den Fantasien von künstlicher Intelligenz widerstehen, können wir zur neuen Formulierung einer alten Idee kommen, die in der Vergangenheit viele Formen hatte: ‘Humanismus.’ Der neue Humanismus ist, wie früher, der Glaube an den Menschen, doch speziell in der Form einer Ablehnung von künstlicher Intelligenz. Das hieße nicht, irgendeinen Algorithmus oder roboterhaften Mechanismus zu verwerfen. Jeder einzelne vermeintlich künstlich intelligente Algorithmus kann genauso gut als nicht-autonome Funktion verstanden werden, die dem Menschen als Werkzeug dient. Diese Ablehnung gründet… darauf, dass es immer Menschen geben muss, um einen Computer wahrzunehmen, damit er überhaupt existiert. Ja, ein Algorithmus kann mit den Daten aus einer Cloud, die von Millionen und Abermillionen von Menschen erhoben wurden, eine Aufgabe verrichten. Man sieht die Flachheit von Computern auf praktischer Ebene an ihrer Abhängigkeit von einer verborgenen Masse anonymer Menschen, oder einer tieferen epistemologischen: Ohne Menschen sind Computer Raumwärmer, die Muster erzeugen.”
Der verwendete Ausdruck "Fantasien von maschineller Gnade" bezieht sich auf das berühmte Gedicht von Richard Brautigan, welches ich folgendermaßen ins Deutsche übertragen habe.
Alles von Maschinen in liebevoller Gnade überwacht
Ich denke gerne (und
je eher desto lieber)
an eine kybernetische Wiese,
wo Säugetiere und Computer
zusammenleben, in sich gegenseitig
programmierender Harmonie,
wie reines Wasser,
das den klaren Himmel berührt.
Ich denke gerne
(und das bitte sofort)
an einen kybernetischen Wald
voller Kiefern und Elektronik,
worin das Wild friedlich
zwischen Computer umherzieht,
als wären es Blumen
mit ineinander verwobenen Blüten.
Ich denke gerne
(so muss es sein)
an eine kybernetische Ökologie,
wo wir von unserer Arbeit befreit sind
und zurückkehren zu unseren
Säugetier-Brüdern und –Schwestern;
und alles ist überwacht
von Maschinen in liebevoller Gnade.