Weisheit ist die Suche nach der Wahrheit
Was es bedeutet, ganz Mensch zu sein. Vernünftig ist, wissen zu wollen, was Wahrheit ist. Unvernünftig dagegen, sich in ihrem Besitz zu wähnen.
Innerhalb weniger Tage haben mit Professor Dr. Michael Meyen und Dr. Eugen Drewermann zwei kritische Köpfe, die ich sehr schätze, den griechischen Philosophen Platon zum Gegenstand ihrer Arbeit gemacht. Dieser Beitrag beschäftigt sich aus meiner Sicht mit dem, was beide — Meyen und Drewermann — übersehen haben.
Platonische Philosophie war der Ausgangspunkt für mein jüngstes Projekt, die Morgenstunden. Schöpferische Vernunft ist der Begriff, der für mich das Werk Platons am besten charakterisiert. Aufmerksam gemacht auf Platon hat mich in gewisser Weise Friedrich Schiller, dessen Zitat von der Schönheit als Wegbereiter der Freiheit mich überhaupt inspiriert hat, den Ursprüngen dieses Gedankens konzentriert nachzugehen.
Die “Klassik”, von der Schiller spricht, ist vor allem die griechisch-römische, aber der Geist der “Brüderlichkeit”, die Schiller in der Ode an die Freiheit (so der ursprüngliche Titel) hymnisch besingt, ist unzweifelhaft die Frucht der platonisch-humanistischen Philosophie.
Vor diesem Hintergrund betrübt mich die Darstellung Platons als einem Vordenker des Totalitarismus, der sowohl bei Meyen, als auch bei Drewermann durchscheint. Die Ursache für diese Falschbeurteilung möchte ich zum Anlass nehmen, mit einigen Gedanken einen Kontrapunkt zu setzen. Platon war alles andere als ein Ermöglicher des Totalitarismus. Ihn als solchen darzustellen entspricht allerdings den Zielen jener Oligarchen, die sowohl Platon als - noch stärker - Sokrates mit ihrer Philosophie zu entlarven und zu überwinden hofften.
Sowohl Drewermann (in dessen Vortrag aus der Reihe über ‘Glauben und Wissen, Philosophie und Religion’ neben vielen Stärken auch einige weitere Schwächen enthalten sind, auf die ich hier nicht eingehen kann), als auch Meyen stützen sich in ihrer Deutung Platons als Wegbereiter des Totalitarismus und des Krieges (Drewermann) auf den Dialog über den “Staat”, in der Sokrates mit seinen Dialogpartnern eine scheinbar ideale Ordnung entwirft, aus der sich die von Meyen und Drewermann übernommenen Fehl-Urteile ergeben.
Was beide übersehen, und was angesichts der größeren Ausführlichkeit von Drewermanns Vortrag bei diesem noch stärker überrascht als bei Meyen, ist die Tatsache, dass Platon in seinem Gesamtwerk stets und unzweideutig zur Anwendung kritischer Vernunft aufruft, und zwar auch über die Wahrnehmung der Sinne hinaus! Die Vernunft ermöglicht eine bessere Erkenntnis der Weisheit, die zu lieben Platon und sein von ihm verewigter Lehrer Sokrates als ihr Lebenswerk betrachteten.
Es ist daher mehr als schockierend, dass Platon von seinen Kritikern stets nur wörtlich (und damit dem Augenschein nach absolut) gelesen wird. Dabei schildert gerade Platon in der Apologie des Sokrates eindrucksvoll, dass die “Todsünde” des Sokrates darin lag, seine Worte nicht mit bedacht zu wählen, sondern Wahrheit direkt auszusprechen. Dafür wurde Sokrates als “Gotteslästerer” und “Verführer der Jugend” von der Attischen Oberschicht hingerichtet. Nur ein Narr kann daher übersehen, dass Platon “vernünftig” gelesen werden muss, also zwischen den Zeilen!
Was Drewermann richtig erkennt, ist die Tatsache, dass Platon ein Verfechter der pythagoreeischen Ideenlehre war. Seine Idee war die vernünftige Suche nach der Wahrheit im Sinne einer Erforschung des Ursprungs der Welt: alle Materie wurde auch für Platon geschaffen von einem ewigen, nichterschaffenen und nicht-materiellem Wesen, welches er Gott nannte.
In der Beschreibung dieser Wahrheit (es ist eine Beschreibung, und also nicht die Wahrheit selbst!) musste Platon natürlich angesichts der Erfahrungen des Sokrates sehr umsichtig vorgehen, damit ihm nicht dasselbe Schicksal drohte wie seinem Lehrer. Der Inhalt seines Werkes ist allerdings stringent und eindeutig humanistisch. Er beschreibt eben gerade keine totalitäre Gesellschaft, sondern eine ideale (so wie gut 1800 Jahre später der Humanist Thomas Morus in seiner Utopia).
Kern der Ideenlehre (worüber ich gerne von Drewermann mehr gehört hätte) ist im übrigen der Rückbezug auf die Vorläufer einer bestimmten Ausprägung einer Idee. Denn nur auf diese Weise kann sowohl mittels der schöpferischen Vernunft die Idee nachvollzogen werden, um sie dann in einem noch zu hoffenden weiteren Schritt fortzuentwickeln. Fort-Schritt!
Gegner humanistischer Philosophie sind (allgemein formuliert) jene, die nicht an die jedem Menschen angeborene und unverletzliche Würde glauben, sondern sich und ihresgleichen für besser halten. Nietzsche’s Übermensch. Friedrich Schiller hat die in jedem Wesen angelegte göttliche Anlage ins Zentrum seiner Philosophie gestellt und darüber in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen ausführlich nachgedacht.
Wo Drewermann, der vielleicht Schiller noch in einer späteren Vorlesung würdigen wird, von Therapie sprach und damit Krankheit und pathologische Prozesse quasi zur Norm erklärt, spricht Schiller von Verdedelung durch Schönheit. Sowohl sinnlicher Verletzung als auch rational-verkopfter Gefühllosigkeit wird in der humanistischen Philosophie Schillers durch klassische Bildung und Schönheit vorgebeugt, bzw. abgeholfen.
Unverkennbar spielen diese Gedanken Schillers heute keine große Rolle, weder philosophisch noch gesellschaftlich. Der Grund dafür ist aus meiner Sicht offensichtlich: Die Idee Schillers ist zu gefährlich für Oligarchen, die sich danach sehnen, die Welt in ihrem Sinne totalitär zu beherrschen. Platon und Sokrates sind in ihrem Werk ebenfalls zu gefährlich, als dass man sie unverfälscht und essentiell vernünftig lesen und lehren dürfte.
Dass Platon die Gesellschaft durch Philosophenkönige regiert sehen wollte, ist kein Beleg einer autokratischen oder freiheitsfeindlichen Gesinnung. Dazu ist der Philosoph durch Sokrates im Werk Platons viel zu umissverständlich beschrieben. Es ist der Weg hin zu einer Gesellschaft, in der Philosophenkönige herrschen werden (durch einen Konsens der Gesellschaft), welcher Platon und Sokrates (wie auch ihre wahrhaftigen humanistischen Nachfolger) so wichtig machen: Die Ausbildung der schöpferischen Vernunft mittels einer Ausbildung ohne Indoktrination, aber mit einem Bewusstsein für die unsterbliche, schöne und mannigfaltig begabte Seele eines jeden Menschen, die es zu fördern gilt.
Gotthold Ephraim Lessing hat die Geisteshaltung, welche eine solche Aufgabe zu leisten vermag so beschrieben:
The first time I heard an academic publicist call Plato a totalitarian, must have been decades ago. I have to thank the (Canadian) Rising Tide Foundation for clearing up that prejudice.
Die Schlussfolgerungen nach 1945 und auch nach 1989 waren, eben in der Formulierung von politischen Zielsetzungen nicht mehr auf IDEALE zu setzen, nicht mehr anzunehmen, ein GANZ werden von Mensch und Gesellschaft könnte dauerhaft erreichbar sein.
Mit zu viel Wucht haben sich ganz ähnliche Ideen über systemtheoretisches, biosoziologisches Denken dank der vom Eugeniker Julian Huxley mitgegründeten UNESCO erneut in Mitteleuropa in die akademischen Institutionen eingeschrieben. Die Bildungsreform der EU, OECD und UNESCO ab den 2000er Jahren hat der Wiederkehr der vor 100 Jahren bekannten Einheitwissenschaft Vorschub geleistet.
Seit 2018 ist Wissenschaft global normativ ausgerichtet. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, wenn all jene, die dieser neuen DIE Wissenschaft nicht entsprechen über die Kontinente hinweg aus den Universitäten verbannt werden. So tragisch das alles ist, so ist dies alles von Menschen entschieden worden.
Anstatt wie noch in den 2000er Jahren wissenschaftstheoretische, methodische Pluralität und Perspektivität zuzulassen, ist mit System Science, Complexity Science und dem planetaren Weltbild nun erneut eine Einheitsvorstellung da, die alles in der Moderne entwickelten Differenzierungen nivelliert.
Der Sprung zurück hinter die Moderne und zurück in die Vormorderne aufgrund dieser Einheitsvorstellungen von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft ist ab 2020 längst global dank UNO, OECD vollzogen.
Ich hätte gemeint, Europa hätte die Konsequenzen nach 1945 und nach 1989 gelernt.
Das war und ist mein größter Irrtum. Mit größter Begeisterung folgen die meisten der Verlockung der Vereinheitlichung. Wissenschaft ist Religion, Religion Wissenschaft/Philosophie.
Dass die vierte Industrielle Revolution sich die Aufklärung einverleibt und im Namen ihrer auftritt und dies von gefühlten 99% der akademisch gebildeteen mitgetragen wird, übersteigt meine Erwartung an die Entwicklung der Universitäten nach ihrer ökonomistischen Reform in den 2000er Jahren. Damals wurde die Umwandlung in Wissensproduktionsfabriken diskutiert und kritisiert.
Das nächste ist längst das Gesundheitswesen. Es steht an, den neuen Menschen, die neue Zivilisation hervorzubringen.
Hach. Europa. In der Tat wiederholt es seine Geschichte fraktal. So groß ist die Ammesie. Zuviel der Geschichte wurde nur halb erzählt. Zu groß dieses Folgen nach der Erfüllung der Versprechungen der erlösenden Einheitswissenschaft: Es wird alles gut in der Zukunft.
In der Zwischenzeit baut sich eine Kriegsmaschinerie für einen Weltkrieg auf.
Wir waren ja so mit den schönen Träumen und Hoffnungen beschäftigt, dass wir es gar nicht mitbekommen haben.
Auch dieses Mal wird es so heißen.